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Paul Hankar und Viktor Horta – zwei Architekten des Brüsseler Jugendstils

2011 wurde Victor Horta in einer umfangreichen Brüsseler Ausstellung gewürdigt; 2013 galt Henry Van de Velde die Aufmerksamkeit. Brüssel gibt sich nicht nur mit diesen Retrospektiven als die Metropole der Art nouveau und Art déco. Alle zwei Jahre feiert man im Herbst einen Monat lang die Biennale der Art nouveau und Art déco. Doch das scheint eine Alibiveranstaltung. Schnell wird übersehen, dass mit dem urbanen Erbe schlicht nachlässig und bisweilen barbarisch umgegangen wurde und wird. In der Vergangenheit wurden zum Beispiel Hortabauten wie das Volkshaus schlicht abgerissen. Der Stadtumbau geht rund um den Nordbahnhof ebenso ungehemmt weiter wie im sogenannten Europaviertel. Nach und nach ändert sich das Stadtbild. Seelenlose Glas-Stahl-Beton-Türme bestimmen die Skyline Brüssels. Mit der Cité Administrative gegenüber dem alten Botanischen Garten nahm dieser brutale Stadtumbau seinen Anfang.

cimberlaniDen Erhalt wichtiger Horta-Bauten überlässt man Privateigentümern, man denke nur an das Haus Solvay, Haus Hallet oder Haus Tassel. Das trifft auf Bauten von Paul Hankar ebenso zu wie auch für das von Josef Hoffmann streng geometrisch konzipierte Palais Stoclet, das die aktuellen Erben gerne in staatliche Hände geben würden. Doch bisher haben sich weder die belgische Zentralregierung noch die Gemeinschaften und Regionen positiv zu einem möglichen Ankauf verhalten. Van de Veldes Wohnhaus Bloemenwerf stand 2013 ebenfalls zum Verkauf an. Auch hier gab es keine Schritte der jeweiligen Regierungen, einen Ankauf in Erwägung zu ziehen und beispielsweise in der Villa Bloemenwerf ein Van-de-Velde-Museum zu etablieren. Umstrittene Pläne für ein Musée de Fin de siècle – dabei werden Räume der Königlichen Museen für Schöne Künste genutzt – wurden hingegen realisiert. Dass dabei 2011 aus der Präsentation der Museen für alte und moderne Kunst aktuelle und Gegenwartskunst verschwand und nun in einem Depot einer ungewissen Zukunft entgegengeht, wurde bisher öffentlich verschwiegen und unter den Teppich gekehrt. Stattdessen behauptet man schlicht, ein solches „Gründerzeitmuseum“ sei dringend erforderlich und würde - ähnlich wie das Magrittemuseum – zu einem Besuchermagnet werden. Woher nimmt man bloß diese Annahme? Foto: Haus Ciamberlani - ein Meisterstück von Paul Hankar

Blicke hinter die Jugendstilkulisse

Solange jedoch in Brüssel noch herausragende Bauwerke der Art nouveau und Art déco zu sehen sind, sollte man es nicht versäumen, sich diese anzuschauen, auch wenn diese im Stadtgebiet verstreut sind. Zugang zu den Innenräumen dieser Privathäuser gibt es allerdings nicht, sieht man einmal von Führungen ab, die alle zwei Jahre im Rahmen oben genannter Biennale angeboten werden. 2015 ist es dann wieder soweit!

Derweil muss man sich mit dem Besuch des Horta-Museums und des Maison Autrique begnügen. Ersteres ist Hortas Wohn- und Atelierhaus, das mit Originalmöbeln eingerichtet ist. Letzteres dient heute als Museum, das für Ausstellungen im Grenzbereich zwischen Kunst und Comics genutzt wird. Zugänglich ist auch das Maison Cauchie am Jubelpark. Es war das Wohnhaus von Paul Cauchie und Caroline Voet, er Architekt, sie Malerin, und ist aufgrund seines Fassadensgraffitos ein wahrer Augenschmaus. Außerdem ist das Belgische Comicmuseum einen Besuch wert, das sich in dem von Horta konzipierten ehemaligen Warenhaus Waucquez befindet.

Art nouveau - mit und ohne Horta

huistasselAuch jenseits des Hypes um die Jugendstilarchitektur von Victor Horta gibt es in Brüssel interessante Jugendstilbauten anderer Architekten zu entdecken, darunter auch das Warenhaus Old England, in dem heute das Musikinstrumentenmuseum (mim) seine Sammlung präsentiert. Unablässig fließt der Verkehr über die Louizalaan. Wer nimmt schon davon Notiz, dass sich an dieser Verkehrsader zwei Perlen des Jugendstils befinden: das Herrenhaus Solvay und das Herrenhaus Hallet. Unweit davon findet man den dritten sehenswerten Hortabau, das Haus Tassel. Verweilen wir noch ein wenig vor dem sandsteinernen Herrenhaus Solvay. Dieses Bauwerk Hortas steht ebenso auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes wie Hôtel Tassel (1884), Hôtel van Eetvelde (1895-1897, 1900-1901) sowie Maison und Atelier Horta (1898-1901), Es sind wohl mit die wichtigsten Bauwerke, die der in den Adelsstand erhobene Architekt der Nachwelt hinterlassen hat. Doch auch den Zentralbahnhof und das Bozar entwarf Horta, wenn auch mit weit weniger verspieltem Schwung, wie man an dem kantigen Bau des Bozar aus graublauem Granit ablesen kann. Konkav-geschwungen ist die Eckform des Zentralbahnhofs, dessen Bauform aber auf Hortas „Peitschenschlagmotiv“ und vegetabile Formen gänzlich verzichtet. Viktor Horta: Haus Tassel

Herrenhaus Solvay – konvex und konkav

Doch zurück zum Herrenhaus der Familie Solvay, die mit dem Patent auf Soda ihr Glück gemacht hatte. Errichtet wurde das Haus für Armand Solvay, den Sohn von Ernest Solvay, der nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer eines chemischen Betriebs war, sondern auch Mäzen. 1955 hatte einer der Solvay-Nachkommen vergeblich versucht, den Belgischen Staat zur Übernahme zu bewegen, um dort ein Museum einzurichten. Da dieses Projekt scheiterte, kam die Familie Wittamer ins Spiel, die bis heute das Haus besitzt und erhält. Was man von der Louizalaan aus nicht sieht, ist die gewaltige Gebäudetiefe von mehr als 61 Metern bei einer Breite von 15 Metern an der Straßenseite. Auffallend sind die beiden über zwei Geschosse reichenden konkaven Erker links und rechts. In der ersten Etage des „konvexen“ Gebäudezentrums erstreckt sich ein bauchig in den Straßenraum ausgewölbter Balkon. Konstruktive Elemente, die zugleich auch „Fassadendekors“ sind, sind die „Säulen“, die sich über die Etagen der Erker emporrecken. Das Treppenhaus und das Untergeschoss sind teilweise mit Marmor ausgekleidet. Innerhalb des Haus verwendete man auf Geheiß Hortas 23 verschiedene Marmorsorten, die nach Farbe und Struktur für die einzelnen Räume ausgesucht wurden. Buntglas mit floralen Dekors findet man in den Türblättern des Erdgeschosses.

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Im Treppenhaus des Herrenhauses Solvay:
Malerei von Théo van Rysselberghe
(Detail)

Bewegt man sich ins erste Obergeschoss, dann schaut man auf Théo van Rysselberghes neoimpressionistisches Gemälde „Lesung im Park“: Eine Gruppe von jungen Damen hat sich unter dem Laubdach im Park versammelt und lauscht aufmerksam der Stimme einer Vorleserin. Oberhalb des Gemäldes füllt orangefarbenes und rotes Buntglas die Zwischenräume der Holzkonstruktion, die wie ein Fächer oder das Flügelpaar eines Schmetterlings anmutet. Blicken wir uns im Erdgeschoss um, dann fällt unser Blick auch auf einen weiblichen Akt, der einen Pfau umarmt. Schwungvoll sind die Treppengeländer aus Mahagoni und Messing gestaltet worden. Bei deren Anblick denkt man unwillkürlich ans Rankenwerk in tropischen Regenwäldern oder an riesige Farnwedel, die sich gerade ausrollen. Zu sehen sind auch Mosaikarbeiten mit grünen Rankenmotiven.

Häuser für Freunde

Für den Freund, den Bankier Max Hallet, entwarf Horta in der Louizalaan ein dreigeschossiges Wohnhaus mit einem über die gesamte Fassade verlaufenden Balkon in der ersten Etage. Bei dem heutigen Verkehr ein nutzloses Detail des Baus. Der 14 Meter breite Giebel wurde in weißem Kalkstein ausgeführt und weist eine vorherrschende Dreiachsigkeit auf.

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Haus Ciamberlani: Sgraffito des Zyklus des Lebens

Schließlich wäre da noch das Haus Tassel, ebenfalls für einen Hortafreund konzipiert. Es steht in der P.S. Jansonstraat, nur wenige Schritte vom Herrenhaus Solvay entfernt. Auch dieses Haus hat einen privaten Eigner, der das Gebäude jedoch einer Organisation vermietet hat, die sich mit nachhaltiger und gesunder Ernährung befasst. Es handelt sich um den European Food Information Council. Allerdings bedeutet das nicht, dass Besucher, die an dem Interieur des Hauses interessiert sind, einfach hineinspazieren können. Gelegentlich gibt es Führungen unter anderem mit der Organisation ARAU, um einen Blick ins Innere des Tasselhauses zu erhaschen. Steht man vor dem Haus so fällt der Blick auf den zentralen Eingang des dreiachsigen Hauses und auf den bauchigen Mittelerker, der ein Zwischengeschoss und das erste Obergeschoss einnimmt. Wie ein Baum mit Wurzelwerk erscheinen die Säulen des Zwischengeschosses, die den sichtbaren halbrunden Eisenträger tragen. Im Inneren entdecken wir Wandmalereien, deren Motive an flatternde Gräser und Schilf im Wind erinnern. Dieses Motiv findet sich auch in den Mosaiken im Haus. Überwölbungen aus Milchglas lassen dezentes natürliches Licht ins Foyer und Treppenhaus einströmen. Die Wände sind mit floralen Motiven bedeckt. Dazu gehören auch rotknospige Blumen.

Im Schatten Hortas: Paul Hankar

Doch was wenige nur wissen, der Schatten von Horta war nicht allmächtig. Paul Hankar, ein Mitstudent Hortas an der Akademie in Brüssel, hat der Nachwelt auch einige bemerkenswerte Bauwerke hinterlassen. Sein früher Tod mit 42 Jahren verhinderte aber eine mit Horta vergleichbare Karriere. Hankar bevorzugte Backstein als Baumaterial und nicht Sandstein. Zudem war er ein überzeugter Anhänger geometrischer Linien. Seine Auftraggeber waren auch keine begüterten Brüsseler Bürger, sondern entstammten eher der Mittelschicht. Besonders typisch für Hankar-Bauten sind die Sgraffiti an den Fassaden. Dabei handelt es sich um eine Art Freskenmalerei, bei der erst ein schwarzer Grund aufgetragen wird, über den eine weiße Deckschichtgelegt wird. In diese wird dann ein Motiv eingekratzt und anschließend koloriert. Die Mutter des Malers Albert Ciamberlani gehörte zu Hankars Auftraggebern. Sie ließ sich in der Defacqzstraat ein mehrgeschossiges Haus bauen. Auch das benachbarte Gebäude in der Nr. 50 stammt im Entwurf von Paul Hankar und diente dem Maler René Janssens als Wohn- und Atelierhaus.

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Balkon des Hauses Ciamberlani

Blickfang des Ciamberlani-Hauses sind die beiden hufeisenförmigen Fenster der ersten Etage. Die „Fensterlaibungen“ bestehen aus weißen emaillierten Backsteinen. Über die gesamte Hausbreite erstreckt sich ein Balkon mit weiß gestrichenen Balkongittern. Diese Gitter bestehen aus konzentrischen Kreiselementen mit jeweils zentralem Blumendekor. Über den Hufeisenfenstern sieht man einen Sgraffitozyklus, der sich mit dem Leben von der Geburt bis zum Tod befasst. Oberhalb der Fenster des nächsten Geschosses sieht man einen „Fries“ mit floralen Motiven und sieben Medaillons, die sich bildlich auf die zwölf Aufgaben des Herkules beziehen, darunter die Zähmung der menschenfressenden Rosse des Diomedes und Vertreibung der Stymphalischen Vögel. Dass die Fassade im neuen Glanz erstrahlt, ist allein den aus Frankreich stammenden neuen Eignern zu verdanken.

Das Haus Janssens zeichnet sich zum einen durch einen gewaltigen Erker im ersten Geschoss aus, Auffallend ist auch hier, dass Backstein für den Giebel verwendet wurde und die Laibungen von Türen und Fenstern aus Sandstein bestehen. Kunstvoll gemustert ist der obere Teil der Fassade, der aus weißen und roten Backsteinen aufgemauert wurde. In der gleichen Straße wie die beiden beschriebenen Hankar-Bauten steht auch Hankars eigenes Wohnhaus (Nr. 71!!).

Im Kern frönt Hankar mit diesem Bau seiner Vorliebe für flämische Neorenaissance, die er mit Elementen des Jugendstils versetzte. Nicht nur die in Grün abgesetzten Gusseisenelemente, sondern auch die Malerei in drei Bögen unter dem vorstehenden Dach verraten Art nouveau. Die Malerei stellt symbolisch mit Taube, Schwalbe und Fledermaus den Morgen, den Abend und die Nacht dar. Die Erker sind teilweise mit einer Art eisernem Flechtwerk verkleidet. Zudem zieren Tier- und Blumendarstellungen die beiden Erkerfelder. © fotos und text fdp, November 2013 / SABAM 2013/14 für das Werk Viktor Hortas.


Detail des Wohnhauses von Paul Hankar

Informationen
Maison und Musée Horta
http://www.hortamuseum.be/

Maison Autrique
http://www.autrique.be

Maison Cauchie
http://www.cauchie.be/cauchie-haus

Jugendstilbiennale
http://www.voiretdirebruxelles.be/

ARAU
http://www.arau.org/en

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