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Wohlklang hinter einer Jugendstilfassade - vom Warenhaus Old England zum mim

Beschwingt" ist die äußere Hülle des ehemaligen Warenhauses Old England, dessen Markenzeichen der „Beefeater“ nicht nur Werbeplakate, sondern auch Geschirr des Tee-Salons schmückte, wie man beim Besuch des mim – Musikinstrumentenmuseums – in einer kleinen Ausstellung zur Baugeschichte und Restaurierung des Old England erfährt.

oldengland
Beschwingter Jugendstil: Old England, heute mim

Verweilen wir zunächst bei der Baugeschichte des Hauses. Entworfen hat das heutige mim – die Noten an der Fassade verweisen auf die aktuelle Funktion – der Architekt Paul Saintenoy. Dessen Großvater mütterlicherseits J.-P. Cluysenaar hatte 1848 die Königlichen Sankt-Hubertus-Passagen entworfen. Saintenoy war im Übrigen ein Zeitgenosse von Victor Horta und Paul Hankar, mit denen er die Akademie in Brüssel besuchte. Saintenoy war jedoch nicht nur Architekt, sondern auch Historiker und Archäologe. 1910 beendete er seine Tätigkeit als Architekt und lehrte hinfort Geschichte.

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Fries im Untergeschoss des Old England

Diesem Architekten ist nicht nur das Warenhaus Old England zu verdanken, sondern auch der Umbau des in der Nachbarschaft befindlichen Ravensteinhofs, ein typisches Beispiel flämischen Historismus. Dabei ließ sich der Architekt von der flämischen Backsteinarchitektur des 15. und 16. Jahrhunderts inspirieren. 1896/97 wurde nebenan für Delacre und Cie ein Warenlager für chemische Produkte gebaut. Bereits bei diesem Bau griff Saintenoy für die Gebäudekonstruktion auf Gusseisen und Stahl zurück, gleichsam als Vorgriff auf den Bau des Old England. Nicht mehr vorhanden sind weitere Entwürfe Saintenoys für die Bebauung des Kunstbergs, die nach grundlegenden Ideen des belgischen Monarchen Leopold II. realisiert werden sollten. Bis heute ist das ehemalige Warenhaus Old England eine der Perlen des Brüsseler Jugendstils – die Stadt ist in der Vergangenheit und Gegenwart nicht pfleglich mit dem urbanen Erbe umgegangen, wie man im Nordviertel rund um den Bahnhof Brussel-Noord sehen kann.

Ein edles Warenhaus ist entstanden

werbungKennzeichnend für das transparent erscheinende Old England – erbaut zwischen in den letzten beiden Jahren des 19. Jahrhunderts – sind die sichtbaren konstruktiven Teile aus Eisen und Stahl. Als der Bau entstand, war Skelettbauweise das Gebot der Stunde. Selbst die Nieten der Träger und Lasten sind nicht versteckt worden, sondern bilden einen wesentlichen Teil des Bauschmucks. Nicht zu übersehen ist das über mehrere Geschosse reichende Ecktürmchen, dessen Abschluss eine filigrane Eisenhaube bildet. Ins Auge springt das zweigeschossige große Bogenfenster als Teil der Kuppel, die den vorspringenden Mittelteil des Gebäudes abschließt. Eiserne Konsolen sieht man am Eingang, aber auch im Inneren. Kapitele sind als sprossende Blüten und Blattwerk konzipiert. Florales findet sich im Mosaikfußboden des Foyers. Der Fahrstuhlkorb wird von Türen abgeschlossen, die mit eisernen Kastanienblättern geschmückt sind. Friese im Untergeschoss nehmen das Motiv von Silberbaumgewächsen auf. Auch in den Ausstellungsräumen des mim findet man Anklänge an Art nouveau, zudem einen kleinen Spiegelsaal, der eher dem Stil Louis XV. und des Klassizismus entstammt.

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Guten Tag, Herr Saintenoy

In der Ausstellung zur Baugeschichte und zur Wiederherstellung des Old England sehen wir Entwürfe für die Balustrade der Terrasse, deren Blattwerk dem des Fahrstuhlkorbs entspricht. Das Modell und Prüfstück für die Bauschmuckkeramik der 5. Etage ist ebenso ausgestellt wie Saintenoys Pläne für die Wiederherstellung der Magna Aula des Palais du Coudenberg – nur Schritte vom mim entfernt! Außerdem sieht man eine kolorierte Architekturzeichnung zur Restaurierung und Umwandlung des Ravensteinhofs aus dem Jahre 1893 und die Fotografie der Apotheke Delacre von 1898. Ein historischer Quartiersplan zeigt diejenigen Bauten, die Paul Saintenoy für den „Kunstberg“ entwarf, angefangen vom Ravensteinhof, über das Lager Delacre in der rue Villa Hermosa bis hin zu einer temporären Geschäftszeile in rues Coudenberg, Ravenstein, de la Madeleine und Cantersteen anlässlich der Weltausstellung 1910.

Auch dem Warenhaus Old England widmet sich die Ausstellung, präsentiert den Winterkatalog 1908/09 und stellt das Geschirr aus dem Tee-Salon des Warenhauses zur Schau. Doch hinter der Jugendstilfassade ist heute nicht Herrenmode, sondern die Musik zuhause

laute

Da liegt Musik in der Luft

Dank moderner Technik kann jeder Besucher einen Teil der ausgestellten Musikinstrumente zum Klingen bringen. Dass beim Besuch durch Schülergruppen bisweilen eine Kakofonie zu vernehmen ist, muss ergänzend angeführt werden. Die historischen Musikinstrumente, die zur Brüsseler Sammlung gehören, sind vielfach zu fragil zum Anspielen. Im Gegensatz zum Ringve Museum (Trondheim) muss man auf Livemusik leider verzichten.Übrigens: Auch einen Klangteppich wie im Rock 'n Popmuseum Gronau darf man in Brüssel nicht erwarten. Vielfach wirkt die Ausstellung auch ein wenig angestaubt, da wichtige Teile der Musikgeschichte wie Jazz, Rock, Pop, Hip Hop und andere Musikstile nebst deren Instrumenten völlig ausgeklammert werden.

Der Besuch der Ausstellung verspricht dennoch einen Gang durch die Musikgeschichte, nicht nur der europäischen Musikgeschichte. Dass man den Bogen im mim sehr weit gespannt hat, unterstreicht die Reproduktion eines Gemäldes von Lucas Van Valkenborch betitelt „Frühling“, in dem Musik eine wichtige Rolle spielt. Ein Wandbehang nach Vorlage eines Werks von David Teniers entführt uns auf die Kirmes des 18. Jahrhunderts. Hier vergnügen sich Paare bei einem munteren Tänzchen, zu Trommelschlag und Flötenklang. Derartige Exponate und Abbildungen betten die Musikinstrumente gleichsam in einen geschichtlichen Rahmen ein. Dazu gehört auch die Reproduktion eines Gemäldes mit streitenden Musikanten aus dem 17. Jahrhundert und Lautenspieler in einer mittelalterlichen Miniatur.

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Eines der zahlreichen mechanischen
elekronischen Musikinstrumente: Ondioline

Klavizimbel und Dulzian

Ein sogenanntes Geigenklavizimbel mit üppiger Malerei auf der Innenseite des Deckels stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert und gehört ebenso zum Bestand des mim wie Tenor- und Bass-Dulzian aus dem späten 17. Jahrhundert. Beim Dulzian handelt es sich um ein Holzblasinstrument mit direkt angeblasenem Doppelrohrblatt. Krummhörner bekommt man zu Gesicht, aber auch Saiteninstrumente des 16. und 17. Jahrhunderts aus Antwerpen. Von Antwerpen geht die Zeitreise nach Neurenberg, einem Zentrum des Blasinstrumentenbaus des 16. bis 19. Jahrhunderts, verbunden mit Musikinstrumentenbauerfamilien wie Ehe, Haas und Hainlein, aber auch Johann Christoph Denner, dem die „Erfindung“ der Klarinette zugeschrieben wird. Filigran mutet die in Nürnberg 1694 gebaute Trompete an, die Johann Wilhelm Haas zugeschrieben wird.

Glas-Harmonika und Saxofon

lyraklavierWas es mit der Thomaskirche und Johann Sebastian Bach auf sich hat, bleibt beim Rundgang ebenso kein Rätsel wie Benjamin Franklins Glass-Harmonika. Auch dem belgischen Instrumentenbauer und Erfinder des Saxofons und des Saxhorns widmet man sich im mim. Zu sehen ist unter anderem ein Kontrabasssaxhorn in Es. Auch Saxtubas kann man im mim bestaunen. Neben Instrumenten außereuropäischer Musik findet man im mim auch mechanische Musikinstrumente, die vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts und bis in die 1930er Jahre sehr populär waren. Luis Casali aus Barcelona entwarf ein mechanisches Piano. Eine Drehorgel von 1937 bekommt man gleichfalls zu Gesicht. Sie stammt aus dem belgischen Seneffe. Wo wohl das ausgestellte Harmonium der Firma Aeolian Organ & Music Co erklang, fragt man sich beim Anblick des ausgestellten Instruments. Eine Salonorgel mit mechanischen Trompeten stellt man ebenso wie ein Theremin vor, dessen Klangwelten auf elektromagnetischen Feldern beruhen. Auf Elektroröhren zur Klangerzeugung baut hingegen die Ondiolone, die man gleichfalls ausgestellt hat.

Eine Rarität unter den Exponaten des mim ist gewiss das Buffetklavier von Königin Marie-Henriette, das von Louis Sternberg um 1865 gebaut wurde. Kunsthandwerklich ist auch das Tafelpiano von Nicolas Blanchet ein Schmuckstück, und auch das Klavizimbel von Hieronymus Albrecht Hass (Hamburg) verrät die Hohe Schule des Instrumentenbaus des 19. Jahrhunderts. Ein besonderer Hingucker ist schließlich das sogenannte Lyrapiano, nach dem markanten Aufsatz so benannt (siehe Foto links). © fotos und text: fdp

fussboden
Mosaikfussboden im Eingang des Old England

Informationen

mim
Hofberg 2
Montagne de la Cour
1000 Brussels
Ö. Di-Fr 9.30-17 Uhr, Sa/So 10-17 Uhr
Tram 92 u. 94 Royale, Zug: Centraal Station
http://www.mim.be/

klavizimbel
Dertail eines bemalten Klavizimbels von Hieronymus Albrecht Hass

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