NEU IN DER BÜCHERECKE / BÜCHER UNSERER AUTOREN / BIOGRAFIEN / FOTOBÄNDE / HÖRBÜCHER
KINDER- u. JUGENDBÜCHER / LIFESTYLE / REISEBERICHTE / REISEFÜHRER / ROMANE / SACHBÜCHER

Schwarzes Eis

Seit der Osten nicht mehr mit Feindbildern besetzt ist, gibt es großes Interesse an Büchern aus Russland. Die Zahl derer, die versuchen, uns Wesen und Sein des Nachbarn im Osten näher zu bringen, ist groß. Nicht immer sind die Versuche, Kultur, Denkweise, politische und soziale Strukturen zu beleuchten und zu interpretieren, eine Lesefreude. Manches Werk erstickt das Interesse des Lesers in der ewigen Wiederholung von Klischees und Halbwahrheiten. Andere sind unprosaisch wie eine kalte Dusche.

„Schwarzes Eis“ des polnischen Journalisten Mariusz Wilk dagegen ist ein Souffle inmitten der pappigen Russlandliteratur. Seine Geschichten von den Solowjezki-Inseln sind eine warmherzige, poetische Ode an die Abgründe der russischen Seele und Provinz.

Nein, auf diese Inseln würde man freiwillig nicht ziehen. Das kalte, feuchte, moorige Archipel im Weißen Meer, nur einige Kilometer vom nördlichen Polarkreis entfernt, ist von Menschen bevölkert, die „saufen wie die Schweine“ und sich dabei öfters die „Fresse blutig schlagen“, die unter Privatisierung Diebstahl verstehen, die verblödet, agressiv und haltlos durch ihr bisschen Leben torkeln. Schrott steht allenthalben herum, Häuser verfallen, die Bewohner gehen an sich und an den Zeiten zugrunde.

Warum der heute 48jährige Autor, polnische Journalist und ehemalige Pressesprecher der Solidarnosc – als solcher mehrfach inhaftiert - 1993 ausgerechnet in dieser landschaftlichen und kulturellen Einöde gestrandet ist, geht aus dem Werk nicht richtig hervor. Es gibt Erklärungen: „Der Leser wird fragen, warum ich die Solowjezki-Inseln gewählt habe?“ Und die Antwort lautet: Er, der Schriftsteller, wolle von dort nach Russland, in die Welt schauen. Man sähe „Russland, wie das Meer in einem Minitropfen“, schreibt Wilk. Die Inseln seien „Essenz und Antizipation“ zugleich.

Es war also ein freiwilliger Umzug, offensichtlich begründet in einer gewissen Müdigkeit über die Lügen der sogenannten Zivilisation und die Schalheit der Welt. So mokiert sich Wilk in seinem Buch entsprechend über die westlichen Korrespondenten, die für ein paar Tage auf die Inseln kommen und den dortigen Jugendlichen die Welt, schlimmer noch, die richtige Moral beibringen wollen. Wer vor ethischem Gedankengut tropfende Intellektuelle noch nie mochte, wird seine Freude an der Beschreibung haben, wie einst auf einer Konferenz der Friedrich-Naumann-Stiftung die Referenten an der versoffenen Jugend und ihrer eigenen Borniertheit scheiterten.

Wilk hat seine Geschichten über die Inseln von 1996 bis 1998 als Mischung aus Tagebuch, Betrachtungen, Reportage und historisch-literarischen Exkursen aufgezeichnet. Warum es solange dauerte, bis er einen Verlag fand, ist schwer zu verstehen. Seine Anekdoten über tumbe Fischer, strunzige Bauern., liebeskranke Frauen und geile Männer sind melancholisch und komisch zugleich. Er verknüpft die Schicksale zu einem dicken Faden, an dem der Leser wie ein Fisch an der Angel hängt. Wilk gelingt es, die schrecklichsten Dinge über den Charakter der Menschen zu sagen, ohne überheblich zu sein. Vor allem aber, ohne ihnen die Würde zu nehmen. Im Gegenteil: Fast demütig zieht er seinen Hut vor jenen, die in diesen Widrigkeiten bestehen können. Dennoch ist die Quintessenz des Buches ein bitterer Abgesang an den postkommunistischen Gedanken einer schönen neuen Welt.

Schwarzes Eis ist nicht nur ein Buch über Russland, sondern auch eine Liebeserklärung an die nordische Landschaft, die in ihrer Kargheit und Feindlichkeit die Menschen zu Notgemeinschaften und zu Bescheidenheit zwingt, die ihn niederringt – und ihn mit ihrer Grandiosität beschämt. Wilks poetisch-stille Naturbeschreibungen sind schön genug, um am Ende doch zu verstehen, warum man ohne Not dieser Landschaft aus Meer, Seen, Moor, Tundra, Dünen und Wind verfallen kann. Überleben aber kann man diese nur, wenn man wie Wilk die Kraft des Wortes und des Humors hat.

ast@saw

Mariusz Wilk: Schwarzes Eis. Mein Russland. Deutscher Taschenbuch Verlag. 288 Seiten, ISBN: 3423135379, 10,00 Euro.

Dieses Buch bei Amazon kaufen:

zurück zur Übersicht "Biografien"