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Die Stimmen des Flusses

"Die Stimmen des Flusses" sind immer dann zu hören, wenn ein Mensch stirbt, heißt es in dem gleichnamigen Roman von Jaume Cabré, der um die Frage kreist, was wirklich an jenem 18. Oktober 1944 in dem Pyrenäendorf Torena geschah, als der Lehrer Oriol Fontelles in der Dorfkirche getötet wurde.
Sechs Jahrzehnte sind seither vergangen, doch als die Lehrerin Tina Bros historisches Unterrichtsmaterial für eine Ausstellung über die Schulen in den Bergdörfern der Pyrenäen sammelt, stößt sie durch Zufall auf ein Tagebuch und Briefe, die der Dorfschullehrer Fontelles kurz vor seinem Tod hinter einer Schiefertafel versteckt hatte. Neugierig geworden, beginnt sie zu recherchieren und dringt langsam vor zu einem Geflecht aus Lügen und Intrigen, aus Verbrechen und Schweigen.

Cabré, der beständig mit Vor- und Rückblenden arbeitet, entwirft Kapitel um Kapitel ein faszinierendes Gesellschaftspanorama der spanischen Provinz, das sich über sechs Jahrzehnte vom spanischen Bürgerkrieg bis in die Gegenwart erstreckt. Geschickt versteht er es, die Zeitebenen miteinander zu verknüpfen, wenngleich er die Konzentration seiner Leser gelegentlich überstrapaziert.

Im Zentrum von Cabrés Romans steht Elisenda Vilabrú, eine umtriebige Großgrundbesitzerin und Unternehmerin, die seit dem Tod ihres Vaters und ihres Bruders durch Anarchisten auf Vergeltung sinnt. Um ihre Interessen zu verfolgen, scheut sie keine Skrupel, wenn nötig, bedient sie sich auch des franquistischen Bürgermeisters.
Als der Lehrer Oriol Fontelles mit seiner schwangeren Frau nach Torena versetzt wird, gerät er zwischen die verfeindeten Parteien, wobei er sich anfangs auf die Seite des Bürgermeisters schlägt. Oriol verfällt Elisendas Reizen und wird von seiner Frau verlassen, weil er einen feigen Mord an einem Vierzehnjährigen nicht verhindert hat. Schließlich wechselt er heimlich auf die Seite der Widerstandskämpfer, die in den Bergen einen Guerillakampf gegen Franco führen. Er gibt Nachrichten weiter, bereitet Anschläge vor und hilft jüdischen Familien auf der Flucht.

Der Roman schildert zudem ein Spanien, das noch nicht aus dem Schatten von Francos Diktatur herausgetreten ist. Reue oder Unrechtsbewusstsein sind Fremdwörter. Im Gegenteil: Die greise Elisenda Vilabrús betreibt mit viel Geld und Aufwand die Seligsprechung ihres ehemaligen Geliebten, die zum Osterfest 2002 in Rom erfolgen soll; die wissbegierige Tina Bros durchkreuzt jedoch ihre Pläne. Subtil prangert Cabré die Duldung des faschistischen Terrors durch die Kirche an, während er seinen Roman stilsicher einem packenden Ende zutreibt. Selten hat es ein Autor verstanden, die Grauzonen zwischen Diktatur und Demokratie so meisterhaft auszuleuchten.
Obwohl der 1947 in Barcelona geborene Autor zu den produktivsten katalanischen Gegenwartsschriftstellern gehört, der in seiner Heimat als Dramatiker und Drehbuchautor geschätzt wird, bedurfte es erst der diesjährigen Buchmesse und ihrem Schwerpunkt Katalonien, um Jaume Cabré einem größeren europäischen Publikum bekannt zu machen.
Ein Glück für die deutschen Leser, denn der Roman "Die Stimmen des Flusses" gehört sicherlich zu den interessantesten Entdeckungen des Genres.

ran@saw

Jaume Cabré: Die Stimmen des Flusses. ISBN 3518460498. Suhrkamp. 9,90 Euro

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