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Die Welt in Asche

VolpiIn einem Parforceritt wird das 20. Jahrhundert anhand der Geschichten von drei Frauen aus Russland, Ungarn und den USA verarbeitet. Ihnen zugeordnet sind verschiedene Männer, deren Schicksal und Handlungsweisen ebenfalls ausgiebig beleuchtet werden und die oft genug im Fokus der Leiden der Frauen stehen.

Im Morgengrauen muss Irina Nikolajewna Granina im Moskauer Leichenschauhaus ihre 18-jährige Tochter identifizieren und trifft dabei auf ihren Ex-Mann, den Biologen und Dissidenten Arkadi Iwanowitsch Granin. Offensichtlich fällt ihnen die Kommunikation schwer und Irina auch die Einsicht in die Realität: Sie will nicht wahrhaben, dass die Tote ihre Tochter ist: „Eine Mutter irrt nie. Es sind nicht ihre Augen.“

Am selben Morgen sieht sich Jennifer Wells, Tochter eines mächtigen amerikanischen Senators und hochrangige Mitarbeiterin des Internationalen Währungsfonds, mit der Aufgabe konfrontiert, ihrem Neffen beizubringen, dass seine Mutter tot ist. Sie unternimmt alles, den Zeitpunkt hinauszuzögern, weil sie sich dieser Herausforderung nicht gewachsen fühlt. Auch ihre Ehe mit Jack Wells, einem größenwahnsinnigen Biotech-Unternehmer mit kleinbürgerlichem Hintergrund ist gescheitert.

Wiederum zur selben Zeit urteilt ein Gericht über den Mörder der aus Ungarn stammenden Computerwissenschaftlerin Éva Halász.

Drei Tote, gescheiterte Beziehungen, Kapitulation vor den zwischenmenschlichen Gefühlen, dem Anstand, dem Alltagsleben. Die großen Wissenschaftler und Manager scheitern nicht nur bei ihren großen Taten, beschwören Katastrophen wie die in Tschernobyl herauf, sondern sie scheitern vor allem und nachhaltig im Leben. Auf 500 Seiten erklärt der junge mexikanische Autor Jorge Volpi, wie es dazu kam.

Denn irgendwie stehen die wichtigsten Figuren von Volpis drittem Roman in Verbindung miteinander, wie es in einer globalisierten Welt bei Koryphäen wohl unausweichlich ist. Jack Wells benutzt Arkadi Granin zur Vermarktung seines Genomprojekts, Éva Halász arbeitet in seinem Rechenzentrum. Jennifer Wells verbreitet ihre Neocon-Ideologie in Afrika, Mexiko und im Russland der Oligarchen. Granin entwickelt sich vom Sowjetbiologen zum Dissidenten zum Aushängeschild eines Unternehmens, das mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms Millionen machen will. Wissenschaftler, die im Alltag leiden und in ihrem Beruf einem Machbarkeitswahn verfallen sind.

Der gelernte Jurist und Diplomat Jorge Volpi bereut es immer noch, nicht Physik studiert zu haben. Wie in einer Art Versuchsanordnung stellt er seine Romane in die Welt der Wissenschaft und produziert damit den größtmöglichen Abstand zu jenem Mann, der zu ihm gesagt hat: „Ich möchte den einzigen Schriftsteller beglückwünschen, der besser ist als ich.“ Gabriel García Márquez.

Volpi gründete Mitte der 1990-er Jahre mit anderen Autoren die Gruppe „Crack,“ was „Bruch“ bedeutet. Und dieser Bruch sollte genau gegenüber Márquez und den Seinigen stattfinden, die den „magischen Realismus“, der die Literatur Lateinamerikas so lange geprägt hat, als Grundidee ihrer Werke verfochten. Volpi setzt dem einen „realistischen Realismus“ entgegen, keine Magie ist im Spiel, auch wenn seine Charaktere allerhand Schicksalsschläge zu verkraften haben. Aber Passagen weise liest sich der Roman wie eine Art Protokoll, sei es bei der Schilderung der Vorgänge im Kontrollraum von Tschernobyl oder bei der Machtübernahme von Boris Jelzin. Genau recherchierte Fakten verbinden sich (nicht immer ganz nahtlos) mit den durchaus gerundeten und sich entwickelnden Romancharakteren.

fjk@saw

Jorge Volpi: Zeit der Asche. Verlag Klett-Cotta 2009. ISBN 978-3-608-93701-5. 24,90 Euro.
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