Schmelzender Winterblues

Begegnungen in Kopenhagen

Text und Fotos: Robert B. Fishman

Dänemark - Seifenblasenkünstler in der Fußgängerzone Storgata in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Nach den langen grauen Wintermonaten blühen die Kopenhagener im Sommer auf, drängen ans Licht, in ihre vielen Parks, an die Kanäle und Strände. Die Hotels sind voll, Straßen und Plätze auch. Auf den extrabreiten Radwegen stauen sich Lastenräder, Retrobikes, Renngeschosse, Designervelos, Liegeräder und ausgefallene Eigenkreationen auf zwei Rädern. Wer stehenbleibt, wird schon mal weggeklingelt oder angebrüllt. Kopenhagen ist die Fahrradstadt. Bis 2025 will Dänemarks Metropole erste CO2 neutrale Hauptstadt der Welt sein.

Dänemark - dichter Fahrradverkehr in der Fahrradstadt Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Dichter Radverkehr

„Jetzt im Sommer leben wir draußen. Da sind wir ganz andere Menschen,“ erzählt Kris auf einer Kajaktour durch die Kanäle Kopenhagens. „Wir Dänen“, meint der Trainer und Tourguide, „haben eine Winter- und eine Sommerpersönlichkeit. Im Winter schließen wir uns ein, sind zuhause und schieben høge.“ Das ist der Blues der grauen, dunklen und kalten Jahreszeit. Kaum kehrt das Licht zurück, drängt es die Kopenhagener in Scharen nach draußen. Kris trifft dann Menschen, die er das restliche Jahr über nie sieht: die „Sommerfreunde“.

Dänemark - Kayak Republic in Kopenhagen: Ponton mit Liegestühlen unter Plastikpalmen, Foto: Robert B. Fishman

Ponton mit Liegestühlen unter Plastikpalmen

Überall haben Cafés und Restaurants ihre Stühle auf die kopfsteingepflasterten Gassen und Uferkais gestellt. Viele Wirte lassen hölzerne Pontons als schwimmende Terrassen zu Wasser, auf denen die Gäste unter großen Sonnenschirmen sitzen. Junge Leute haben es sich auf den Kaimauern bequem gemacht. Wenn es zu heiß wird, lässt man sich ins Wasser fallen. Vor 20 Jahren war das streng verboten. Damals flossen giftige Abwässer in die Kanäle. Heute schwimmen hier wieder Fische. Kopenhagen lebt wieder am und im Wasser.

Kris, einer der Guides des Kajakvermieters und Touranbieters Kajak Republic, hält das Boot fest und erklärt das Einsteigen: Mit einer Hand hinten den Rand des Einstiegslochs festhalten, die andere Hand am Steg, die Beine rein und dann den Hintern. Das schmale Kajak wackelt und schwankt. Dabei schlagen hier am Börsenkai in der Altstadt von Kopenhagen nur mit Touristen beladene Ausflugsboote Wellen.

Dänemark - Kayak Republic in Kopenhagen, Kajak-Kurs an der Anlegestelle, Foto: Robert B. Fishman

Kajak-Kurs bei Kayak Republic in Kopenhagen

Die Angst vorm Umkippen nimmt Kris mit beruhigenden Worten: „Das Boot wird dich ausspucken. Außerdem“, so verspricht er, bin ich immer neben Dir und kann Dich herausziehen.“ Auf den ersten Metern im Kanal schaukelt das Kajak bedrohlich. „Zieh das Paddel langsam und gleichmäßig auf jeder Seite durchs Wasser und versuche nicht ständig, die Schwankungen des Boots auszugleichen.“ Das hilft tatsächlich. „Stell Dir vor, Dein Hintern wiegt 200 Kilo und drückt Dich fest ins Kajak.“ Gute Idee: Der Glaube versetzt nicht nur Berge. Er kann Boote im Gleichgewicht halten.

So gleiten wir dahin, passieren Schatten spendende Brücken und queren den großen Kanal, der uns noch von einem großen, grauen Kasten mit weit hervorstehendem Dach trennt. „Wir warten, bis das große Boot da vorbei ist, dann fahren wir direkt rüber“, erklärt Kris.

Dänemark - Sandskulpturenpark in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Sandskulpturenpark

Drüben wirft ein großer Klotz seinen Schatten auf den Kanal: Die Oper. Die Reederei Maerks hat der Stadt das neue Bauwerk spendiert. Jetzt müsse, so Kris, die Stadt Unsummen für die Unterhaltung bezahlen. Die Begeisterung der Kopenhagener halte sich in Grenzen. Auch Kris mag das Ding mit dem halbrunden, metallenen Vorbau nicht. Vom 27 Meter hohen Dach springen jeden Sommer junge Leute beim Wettbewerb der Klippenspringer in den Kanal. Die teils bizarren überlebensgroßen Sandskulpturen haben für das Spektakel schon einen Logenplatz. Jedes Jahr im Mai bauen Künstler den Sandskulpturenpark neu. „Auf dem Kanal hast Du den besten Blick auf die Skulpturen und sparst Dir die Eintrittskarte“, freut sich Kris.

Der schlanke junge Sportler hat als Tourguide in Neuseeland, Australien, Kambodscha und noch ein paar anderen Ländern gelebt und gearbeitet. „Im Sommer“, sagt er, „ist Kopenhagen die beste Stadt der Welt: Das Wasser, die frische Luft, die hohe Lebensqualität und alles ist so nah.“ Mit dem Fahrrad sind es nur ein paar Kilometer raus in die Natur, an den Strand oder nur einen anderen Stadtteil. „Dann bist Du schon in einer anderen Welt.“

Dänemark - historisches Gebäude der Alten Börse in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Historisches Gebäude der Alten Börse

Neue Oper, die alte, backsteinerne Börse mit ihren zu Spiralen gemauerten Türmchen und die bei reichen Boots- und Yachtbesitzern beliebten Kanäle und Kanälchen von Christianshavn. Zu sehen gibt nicht nur vom Wasser aus eine Menge. Immer wieder zeigt Kris die vielen Bauwunden, die Banken und andere Investoren der Stadt geschlagen haben. Alte Speicherhäuser ließen sie für moderne Glaskästen abreißen. Doch manche der hypermodernen Bauten lobt sogar er: Der alte Backsteinbau der königlichen Bibliothek, hat einen schwarzen Diamanten zur Seite gestellt bekommen. So nennen die Einheimischen den schräg gestellten, rund 15 Stockwerke hohen Würfel, der aussieht, als würde er gleich ins Wasser kippen.

Dänemark - Besucher auf der Terrasse des Neubaus "Black Diamond" der Königlich Dänischen Bibliothek in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Besucher auf der Terrasse des Neubaus "Black Diamond" der Königlich Dänischen Bibliothek

Unberührt von allen modernen Trends hat sich Kopenhagens ältestes Cafe La Glace etwa so erhalten wie es 1870 eröffnet wurde. Mindestens 20 verschiedene Torten in der Vitrine locken Einheimische und Touristen in das dunkle Kaffeehaus. Drinnen ist es so voll, dass man sich kaum noch bewegen kann. Die Kuchen gelten als legendär. Henrik, der seine Heimatstadt für die Stadtmarketinggesellschaft „Wonderful Copenhagen“ ausländischen Journalisten schmackhaft macht, überschlägt sich angesichts der ausgefallenen Leckereien fast. Er führt zu einem der angesagten Designer-Chocolatiers. Da kann ich nicht widerstehen und zähle angesichts der horrenden Preise schon meine letzten Kronen. Bevor ich am Tresen an der Reihe bin stoppt er mich: „Nein, lass es, Du musst doch gleich noch die Smushies und den phantastischen Kuchen im Royal Café probieren.“

Dänemark - Traditionscafe La Glace von 1870 in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Traditionscafe La Glace von 1870

Wenige Minuten später stehen wir in einem ganz in weiß gehaltenen Schlemmerparadies. Was ich möchte? Natürlich Smushies. Der Name kombiniert den dänischen (und schwedischen) Namen für belegte (Butter)brote Smörrebrod mit Sushie. Professionell lächelnd bringt die – Ton in Ton zum Interieur des Cafes in weiß und rosa gekleidete – Kellnerin eine Platte mit fünf belegten Vollkornbrotscheiben. Zwei davon haben die Fooddesigner mit cremegefüllten Lachsröllchen belegt, ein weiteres mit frischem Hering und die anderen mit einer hauseigenen Paste. Stylisch, gesund und regional ist auch hier der Trend.

Dänemark - Smushi Restaurant The Royal Cafe in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Smushi Restaurant The Royal Café

In kaum einer anderen Großstadt setzen so viele Restaurants, Bäckereien, Imbisse und edle Design-Food-Läden auf Bio wie hier. „Ökologisk“ steht auf vielen ihrer Schaufenster. Dazu kommen zahlreiche Konditoreien, die einmalige kleine dänische Kuchen und Törtchen in allen Variationen anbieten.

Vor dem Runden Turm, von dessen Aussichtsplattform Touristen die ganze Stadt überblicken, steht die erste Bio-Würstchenbude der Stadt. Tofu-Wurst, Kartoffelbrei, Senfsauce, alles aus Ökolandbau, serviert auf dünnen, recycelbaren Pappschalen.

Dänemark - Blick vom Runden Turm über die Dächer von Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Blick vom Runden Turm über die Dächer von Kopenhagen

„Aushilfe dringend gesucht“, heißt es auf einem handgeschriebenen Schild an der Scheibe der Imbissbude. Direkt gegenüber sitzt seit Stunden ein freundlicher Bettler. „Suche dringend Arbeit, egal was“, hat er auf den Pappkarton vor sich geschrieben. Mein Versuch, die beiden zusammen zu bringen, will nicht so recht gelingen. „Ich sag’s dem Chef“, murmelt der Imbissverkäufer und der Bettler meint resigniert: Die erwarten doch bestimmt, dass ich Dänisch kann.“ Der Mann, freundlich lächelnd und angesichts seines Lebens auf der Straße erstaunlich sauber und gepflegt, spricht gut Englisch. Er stammt aus Moldawien. Die meisten Passanten beachten ihn nicht.

Dänemark - Bio-Würstchen- und Imbissstand in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Bio-Würstchen- und Imbissstand

„Die Leute hier sind sehr zurückhaltend“, sagen viele, die es auf den unterschiedlichsten Wegen nach Kopenhagen verschlagen hat. Manche schimpfen die Kopenhagener auch „geldgeil und geizig“. Kajaklehrer Kris bittet um Verständnis: Im Sommer sei Kopenhagen so überlaufen, dass manch Einheimischer die Geduld verlöre. Er erzählt vom Ärger über Besucher, die auf Fahrradwegen herumstünden oder mit ihrem geliehenen Rad den Verkehr aufhielten.

Am Stadtrand macht ein Berliner Station, der als Ein-Mann-Zirkus durch Europa zieht. In den Parks großer Städte baut er seine Manege auf. Die Kopenhagener beobachteten seine Auftritte wohlwollend, aber sehr distanziert. Anders als etwa in Deutschland spreche ihn kaum jemand auf sein Programm an. In den meisten anderen Städten schauten ihm vor allem Kinder gerne beim Schminken zu und überschütteten ihn mit Fragen. „Hier habe ich das noch nicht erlebt“, wundert er sich. Sein Wohnmobil mit dem großen Anhänger für die Manege hat Alexander am Rande des Freistaats Christiania geparkt.

Dänemark - Frau isst an einem Tisch am See in Christiania in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Eine Frau isst an einem Tisch am See in Christiania

1971 besetzten junge Leute das ehemalige Militärgelände, um hier ihren Traum vom selbstbestimmten Leben in einer autonomen Gemeinschaft zu verwirklichen. Immer wieder wollten Stadt und dänische Regierungen das Gelände räumen lassen. In letzter Minute durften die Besetzer bleiben. In den 80er und 90er Jahren verkam der selbsternannte Freistaat zum Freiraum für Dealer und Drogensüchtige. Inzwischen hat Christiania Drogen, Rockerbandenkriege und viele weitere Krisen überstanden. Die Bewohner haben eine Stiftung gegründet, die einen Großteil des Geländes gekauft hat. Die Mitglieder der Gemeinschaft zahlen hohe Mieten und verdienen ihr Geld in eigenen Betrieben, in der nahen Stadt oder als Touristenführer. 200 Jobs bieten allein die Läden, Cafes und Kneipen auf dem Gelände, darunter die Fahrradwerkstatt, in welcher junge Leute die Christiania Lastenräder bauen, das Gesundheitshaus mit Arztpraxis und Apotheke oder die von zwei Frauen geführte Kunstschmiede.

Dänemark - Montage  der Christiania Bikes in der Fahrradwerkstatt der alternativen Lebensgemeinschaft Christiania in Kopenhagen, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Montage der Christiania Bikes in der Fahrradwerkstatt der alternativen Lebensgemeinschaft Christiania

Mehr als eine Million Besucher fallen jedes Jahr in Christiania ein. Nach dem Freizeitpark Tivoli am Hauptbahnhof ist die autonome Gemeinschaft mit ihren bunten selbstgebauten Häusern, den vielen meist alternativen Läden, Künstlerateliers, Werkstätten und Cafes der wichtigste Touristenmagnet in Kopenhagen. Viele kommen zum Kiffen. Über der Pusher Street genannten Hauptstraße hängt beständig dichter Cannabis-Nebel. An zahlreichen selbstgezimmerten Ständen verkaufen Dealer ganz offen Hasch und Grass. „No Photo“ steht auf riesigen, selbstgemalten Schildern über Bildern von durchgestrichenen Fotoapparaten. Die Dealer haben Angst vor Polizeispitzeln.

Dänemark - Häuser in der alternativen Lebensgemeinschaft Christiania in Kopenhagen,   Foto: Robert B. Fishman, ecomedia

Häuser in der alternativen Lebensgemeinschaft

„Wir hatten hier einen regelrechten Krieg mit den Drogenbanden“, erzählt Mario Zorosco. Der US-Amerikaner sitzt mit einem Freund auf der Veranda seines orange-bunten Hauses beim Essen. In einem Ständer auf der Treppe zur Terrasse leuchten bunte Postkarten: Gelbe Sonnen, ineinander fließende Farben, Motive aus Christiania und abstrakte Bilder. Es sind Verkleinerungen seiner vielen Ölbilder, die er drinnen zwischen Bergen von allerlei gesammeltem Kram zeigt: Ansichten von Kopenhagen, Häuser, die sich unter einem blauen Himmel mit riesigen Sternen im Wasser spiegeln, Landschaften und manch bizarre Figuren, die an Werke von Dali erinnern. Zoroscos Malereien strahlen die gleiche entspannte Leichtigkeit aus wie er selbst.

Seit mehr als 30 Jahren lebt der Künstler in Christiania. Stolz ist er auf das, was die kleine Gemeinschaft gegen alle Widrigkeiten erreicht habe. In den 90er Jahren hätten sie gemeinsam die Dealer mit den harten Drogen rausgeworfen. Wer abhängig war, musste draußen einen Entzug machen und durfte erst zurückkommen, wenn er clean war. Nicht wenige hätten das geschafft, meint der 52jährige. Hier habe er die Chance bekommen, er selbst zu sein, „mit all meinen Verrücktheiten.“ Die Gesellschaft habe all die Jahre versucht, die Christiania-Bewohner zu normalisieren. „Schließlich“, sagt Mario lächelnd, „sind die meisten von uns normal geworden, aber zu unseren eigenen Bedingungen.“

Dänemark - Gesundheitszentrum der alternativen Lebensgemeinschaft Christiania in KopenhagenFoto: Robert B. Fishman, ecomedia

Gesundheitszentrum der alternativen Lebensgemeinschaft

 

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