Eine Augenweide für den Tod

Das Krematorium in Hagen

Text: Annette Bußmann
Fotos: Annette Bußmann und wie angegeben

Das Ruhrgebiet protzt nicht zwingend mit Meilensteinen der Architekturgeschichte, meinen viele. Sie irren. Beispielsweise lockt ein kleines Krematorium in Hagen seit mehr als 100 Jahren Baukunst-Fans in den Westen der Republik.

Hagen - Krematorium

Für den Tod war nur am Rande Platz: Das Krematorium residiert fernab der Hagener City in Hanglage. (Foto: Marco Siekmann, Hagen)

„Ist das wirklich alles von Peter Behrens?“ fragt eine filzbemantelte Endfünfzigerin. Sie gehört zu einer Besucher-Gruppe, die der Kunsthistorikerin Elisabeth May an diesem verregneten Mittwoch durch das Eduard-Müller-Krematorium in Hagen-Delstern folgt. Seit zehn Minuten fahren elf Augenpaare einträchtig über Decke, Lampen und Wände. Fast alles ist hier schwarz. Oder weiß. Fast alles original. Und fast alles stammt vom berühmten Berliner Architekten Peter Behrens (1868-1940). Hier mäandern rabenschwarze Bänder über strahlendhelle Flächen. Dort umfahren sie winzige Kreise oder formieren sich zu antikischen Friesen. Selbst der Boden stimmt in den geometrielastigen Schwarz-Weiß-Klang ein: „Über zwanzig unterschiedliche Muster bilden die Fliesen“, erklärt May. „Das ist typisch für den Jugendstil“. Die promovierte Kunstwissenschaftlerin leitet die Abteilung „Bildung und Vermittlung“ des Hagener Karl Ernst Osthaus-Museums. Seit neun Jahren führt die 42-Jährige regelmäßig durch das Haus. Und doch strahlt sie, als betrete sie das proper herausgeputzte Stück zum ersten Mal.

Ältestes preußisches Krematorium

„Sie stehen im ersten Krematorium Preußens“, fährt May fort. 1906/07 entstanden, war die Kremation damals in Preußen strikt untersagt. Insbesondere kirchliche Vertreter/innen rebellierten gegen die Einäscherung. Grausam und heidnisch sei sie. Immerhin beende sie den „langsamen Moder“ konterten Kremations-Befürworter in der eigens initiierten Zeitschrift „Die Flamme“. Im Zuge der Industrialisierung platzten die städtischen Friedhöfe aus allen Nähten. Nicht zuletzt aus hygienischen Gründen galt es dringend neue Wege der Bestattung zu beschreiten.

Hagen - Schornstein des Krematoriums

Schornstein des Krematoriums

Dass sich das kleine Hagener Haus mit dem verräterisch hohen Schornstein flugs zu einem der bekanntesten Bauten der frühen Moderne mauserte, fußt allerdings nicht alleine auf diesem Zwist. Sein vielgelobtes Erscheinungsbild ist dem sogenannten „Hagener Impuls“ zu verdanken: Damals, zwischen 1900 und 1921, wollte der Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus (1874-1921) die „Schönheit als herrschende Macht“ installieren, wie er es nannte. Er wollte Alltag und Kunst in seiner Heimat, der Industriestadt Hagen, komplett verschmelzen.Mittlerweile genießt die rund 190.000 Einwohner/innen zählende, zwischen Sauerland und Ruhrmetropolen platzierte Stadt über die Grenzen Westfalens hinaus nicht unbedingt den Ruf einer Grazie. Damals aber, im frühen 20. Jahrhundert, avancierte sie dank Osthaus‘ ambitionierter Vision blitzschnell zu einem der bedeutendsten Zentren des Jugendstils, zum Inbegriff der Reformarchitektur, die gegen wilhelminischen Fassadenprotz wetterte. Osthaus lockte Architekturlegenden wie Henry van de Velde, Peter Behrens oder J. L. M. Lauweriks an die Volme. Kunsthistorisch einzigartige Stätten wie das erste Museum für moderne Kunst überhaupt, das Karl Ernst Osthaus-Museum (1902), der Hohenhof (1906-08), die Villa Cuno (1910) oder eben das Eduard-Müller-Krematorium entstanden.

Damit der Tod vergessen wird

Peter Behrens galt als einer der ganz großen Baukunst-Reformer seiner Zeit. Er sehnte sich nach einer Baukunst, die „seelisch überwältigt“, wie er 1908 in seiner vielbeachteten Schrift „Was ist monumentale Kunst?“ notierte. Und überwältigt sind die Besucher/innen des Hagener Krematoriums an diesem Tag zweifellos. So sehr, dass der eigentliche Zweck in den Hintergrund gerät. Unfassbar fern scheint der Tod. Nichts erinnert an Trauer. Kein Kerzengeruch, keine Blumengebinde. Kein gequältes Schluchzen, kein verlegenes Räuspern dringt durch den Raum. Einzig die Einäscherungsanlage könnte die Stimmung trüben. Aber sie ist unsichtbar. Verbannt in den Keller. Obendrein außer Betrieb: 1984 errichtete die Friedhofsverwaltung nebenan eine neue, zeitgemäße. Bis zu 2500 Leichname werden hier jährlich eingeäschert, „nicht verbrannt - auf diese Unterscheidung legen Fachleute Wert“, korrigiert May. Die Tendenz sei steigend. „Manche lassen sich hier einäschern, obwohl sie gar nicht aus Hagen stammen“ berichtet Andreas Sahling. So prominent sei das Gebäude. Sahling leitet das Krematorium samt Friedhof seit rund 13 Jahren.

Hagen - Krematorium

Ungeliebtes Arkanum

Eigenartig. Und doch nachvollziehbar: Ständig huschen die Blicke der Besucher/innen an der elementarsten Stelle vorbei - am Katafalk. Hier, unter dem überraschend goldenen Mosaik des Graphikers Emil Rudolf Weiss (1875-1942), werden die Särge aufgebahrt. Und von hier entschwinden sie nach der Trauerfeier in den Keller. Wie von Geisterhand. Dank eines Aufzugs. Als „Arkanum“, als geheimen, verdrängten Ort, bezeichnet der Hamburger Bestattungsforscher Norbert Fischer diesen Part. May bestätigt,„ich gucke den meisten ja nur gegen den Kopf“, aber viele reagierten auf den Katafalk mit Unbehagen. Noch größer sei die Beklemmung in der Einäscherungsanlage. Nicht May, sondern Friedhofsleiter Sahling geleitet auf Wunsch durch diesen Trakt. Trotz jahrelanger, tagtäglicher Konfrontation mit dem Tod, wirkt der Mittvierziger erstaunlich unabgebrüht. Verständnisvoll, fast warmherzig, beantwortet er selbst die nervigsten Fragen: „Nein, von der Einäscherung riecht man nichts.“

Die absolute Kunst

Jäh beamt May die Runde in die hehre Welt der Kunst zurück: „Behrens entwarf das Krematorium als Gesamtkunstwerk“. Beinahe alles entstamme seiner Feder. Ringsum Kreise und Quadrate, Behrens‘ Allheilmittel gegen historistischen Aufputz - an den Fenstern, auf dem Boden, an den Türen. Eine wahre Augenweide. „Bedrückend“, murmelt ein belesener Endsechziger mit nikotingegerbter Haut. Nicht zu Unrecht. Peter Behrens, einst progressiv, dann unrühmlich mit NS-Größen verbandelt, ist als Kunst-Diktator verschrieen: Liebevollst verglaste er die Dächer seiner Berliner AEG-Fabriken. Erhebend fand er dies. Dass die Nutzer/innen im Sommer unter gruseligen Temperaturen litten, scherte ihn kaum. Im Hagener Krematorium aber scheint alles anders: Als Leiter Sahling das Haus vor Jahren das erste Mal betrat, dachte er,„verdammt finster hier.“ Er fragte sich, ob das die Trauernden nicht runterziehe. Um das Licht feierlich zu dämpfen, sitzt in den kreisrunden Fenstern nämlich kein Glas, sondern hauchdünner Alabaster. Inzwischen aber weiß Sahling, dass das Eduard-Müller-Krematorium die meisten Besucher/innen vollends betört. „Das höre ich immer wieder“.

Hagen - Krematorium

Touristenmagnet seit 100 Jahren

Grässlich kalter Wind bläst um die Anhöhe, auf der das Hagen-Delsterner Krematorium wie ein barockes Belvedere thront. Die Besucher/innen inspizieren die Fassade dennoch ungetrübt. Viel zu ansehnlich kommt diese hellgraue Tempelarchitektur mit ihren pechschwarzen Marmorpfeilern daher. Kreis und Quadrat, Kubus und Zylinder, rasch ist das klar, geben auch außen den Takt vor. May unterbricht. „Ein kleines Malheur“ sei vor Ort passiert. Ihre Finger deuten auf nackten Putz. Der Florentiner Frührenaissance-Kirche San Miniato al Monte ähnlich, sei die Fassade ursprünglich mit schwarzweißem Marmor verkleidet gewesen. Der aber habe sich rasch gelöst. In der Gruppe bricht Gelächter aus. May bleibt ernst. Schließlich weiß sie, dass Behrens an diesem Ort Kunstgeschichte schrieb. Er habe als erster den Schritt gewagt, die heikle Gebäudefunktion nicht zu verschleiern, erläutert sie. Und erntet fragende Blicke. Sie präzisiert den epochalen Stellenwert anhand des Turms: Er verjüngt sich stufenweise nach oben - wie sein Florentiner Vorbild, der Campanile von San Miniato al Monte. Doch was in der Toskana den Glocken diente, fungierte in Hagen als Schornstein der Einäscherung - für jedermann sichtbar. Laut May eine Sensation. Schon 30 Jahre zuvor waren die ersten Krematorien entstanden. Aber erst jetzt schien die passende Hülle gefunden. „Bis 1911 kamen 20.000 Menschen hierher“, ergänzt May. Postkarten mit Krematoriums-Motiv waren bald ein Verkaufs-Renner. Ohnedies wusste der Bauherr, der Hagener Verein für Bestattungskultur, nach dessen Vorsitzendem Eduard Müller die Stätte benannt wurde, die Popularität kräftig anzuheizen: Vier lange Jahre rang er mit der preußischen Regierung um eine Einäscherungs-Erlaubnis - und platzierte diesen Kampf geschickt in der Presse. Bis Preußen endlich 1911, als letzter deutscher Staat, die Kremation gestattete.

Hagen - Krematorium

Auf dem Heimweg irritiert ein schokoladenbraunes Schild mit leuchtend weißer Aufschrift: Behrens‘ Bau gehört zur Ferienstraße „Route der Industriekultur“. Ein Krematorium als Industriebau? Die „Mechanisierung des Todes“ begann im 19. Jahrhundert, glaubte der Kunsthistoriker Sigfried Giedion. Und meinte die Schlachthöfe. Die ersten Krematorien entstanden zeitgleich, betonte Bestattungsforscher Norbert Fischer mehrfach in seinen Büchern. Zufall?

 

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