Menschlich und überschaubar

Le Panier: ein kleines Dorf in der Millionenstadt Marseille

Text und Fotos: Robert B. Fishman

Für die Einheimischen ist sie nur eine praktische Abkürzung, für die Touristen ein besonderes Erlebnis: Die kleine, blau-weiß gestrichene Fähre mit den dunklen Holzbänken, die den ganzen Tag zwischen den beiden Seiten des Alten Hafens hin und her tuckert. Hinter der Anlegestelle am Rathaus beginnt eine ganz eigene Welt, die es vielleicht nicht mehr lange geben wird. Marseilles ältester Stadtteil, der Panier, macht sich schick.

Frankreich Marseille Fischerboot

Immer mehr Altbauten bekommen einen frischen Anstrich und neue, leuchtend blaue oder knallrote Fensterläden. Ins Erdgeschoss ziehen Boutiquen oder Geschäfte wie der Laden für handgeschöpftes Papier. Jedes Notizbuch ist hier ein Unikat, ein kleines Kunstwerk. Das billigste kostet zwanzig Euro. Das neue Kleid passt dem Panier nicht. Und die bunten Farbtupfer sehen komisch aus auf der über die Jahrhunderte verwitterten Haut des Arbeiter-, Fischer- und Einwandererkiezes.

Frankreich Marseille Platz in Panier

Der Dorfplatz in der Großstadt

Ein Musikcafé hat eröffnet und nebenan, in der ehemaligen Metzgerei, arbeiten jetzt „seltene Vögel“. L’Oiseau Rare („Der seltene Vogel“) haben Bruno, der Goldschmied und Elisa, die Glaskünstlerin, ihr Atelier genannt. „Klar haben die Leute erst komisch geguckt“, erinnert sich Bruno. Viele haben sich gewundert, dass es da, wo sie immer ihre Wurst gekauft haben, jetzt ausgefallenen Schmuck und bunte Glasdekorationen gibt. Inzwischen fühlen sich die beiden akzeptiert. Die Tür zu ihrem kleinen Laden steht meistens offen. Wenn sie feiern, kommen die Leute einfach herein und trinken ein Glas Wein mit. Auch Elisa ist gern hier im Viertel, auch wenn es manchmal sehr eng ist. „Die Leute reden viel übereinander.“ Valérie, die ein paar Straßen weiter einen Töpferladen aufgemacht hat, liebt den Panier. „Die Steine“, sagt sie, „sind voller Energie“. Immerhin liegen manche schon mehr als 2000 Jahre hier. Auf den engen Straßen fahren kaum Autos, es gibt keine Hochhäuser. „Menschlich, überschaubar“ nennt Valérie den Stadtteil, „wie eine kleine Insel.“

„Der Bürgermeister kriegt ein Feuerwerk!“

Doch die tosende Brandung der Großstadt verschluckt immer größere Stücke des Eilands. Nur noch drei Stunden brauchen die Pariser mit dem Schnellzug TGV zum nahen Bahnhof Saint Charles. So drängt es immer mehr Hauptstädter in die Sonne, dorthin wo das Leben ihrer Vorstellung vom Süden am nächsten kommt: In den Panier mit seinen alten, verwitterten Häusern, lauschigen Plätzen unter Platanen, wo es Läden gibt wie den von Madame Laurier. In der vierten Generation stellt die Familie 180 verschiedene Sorten Schokolade her. „Alles handgemacht, nach den Rezepten vom Urgroßvater“, schwört Madame, die bis heute keine Sahne und keine Butter verwendet. Darum schmeckt Madame Lauriers Schokolade auch heute noch ein wenig trocken und leicht bitter, aber dafür nach Rosmarin, Rose, Lavendel oder Ingwer und Zwiebel.

Frankreich Marseille Alter Hafen

Einfahrt in den Alten Hafen

Es ist diese Art Humor und Beschaulichkeit, die die Großstädter aus dem Norden unter der Sonne des Midi lieben. „Sie richten sich in den alten Wohnungen ihre Zweitwohnsitze ein und verdrängen uns. Wir sind hier geboren, das lassen wir uns nicht gefallen“, schimpft Zéphora. Die kleine, kugelrunde Frau mit dem Lockenkopf ist im Panier geboren und aufgewachsen. Sie hat nie anderswo gelebt und will hier bleiben. Um die Armen zu vertreiben, erhöhe die Stadt die Grundsteuern, bis sich nur noch gut Betuchte die Wohnungen im Panier leisten könnten. „Die wollen uns in die Nordstadt stecken.“ Das sind die grauen Plattenbauviertel, wo es keine Arbeit und wenig Perspektive gibt, wo die Einwanderer aus Nordafrika angeblich ihre Schafe auf dem Balkon schlachten und wo die rassistische Nationale Front ihre Stimmen holt. „Aber wir wehren uns“, verspricht Zéphora und droht dem Bürgermeister und seinem Stadtrat „ein Feuerwerk“ an.

Frankreich Marseille Meerblick

Marseille und das Meer gehören zusammen

Noch erscheint der Panier, das höchstens zwei mal zwei Kilometer kleine Altbauviertel hinter dem Rathaus über dem Alten Hafen, wie ein idyllisches Dorf in der lärmenden Millionenstadt. Auf den engen Straßen, durch die höchstens ein Kleinwagen passt, spielen die Kinder Fußball. Nachbarn unterhalten sich von Fenster zu Fenster über die Gassen hinweg und am Sonntag trifft man sich draußen zum Grillen. „Jeder bringt was mit und dann feiern wir hier zusammen, jeden Sonntag, wenn das Wetter mitmacht.“ Die Einnahmen gehen an den Verein „Kinder, Eltern und Institutionen“, der sich um Jugendliche und Familien in Schwierigkeiten kümmert. Zéphora ist die Vorsitzende.

„Wir wollen kein Freilichtmuseum sein!“

„Wir sind draußen, kommt vorbei“ hat sie an die Tafel am Vereinslokal in der Rue de l’Eveché geschrieben. Auf einer Brache sitzen die Nachbarn in der Sonne, junge und alte. Sie trinken Wein, essen die frisch gegrillten Schnitzel, unterhalten sich. Die Kinder spielen zwischen den Resten der Häuser, die schon abgerissen wurden. Fremde sind willkommen. „Praktizierte Solidarität“ nennt Zéphora den Alltag. Man halte zusammen, kümmere sich auch um die, die nicht mehr mithalten können, Alte, Kranke. „Und wenn Jugendliche Mist bauen, dann sind sie trotzdem unsere Kinder“. Den Reichen die jetzt immer mehr alte Häuser kaufen und sanieren, misstraut sie. „Wegen mir können die hier wohnen, kein Problem, aber dann sollen sie sich an unsere Regeln halten und die Gemeinschaft respektieren“.

Frankeich marseille bei Nacht

Der Hafen bei Nacht

Das Panier geht den Weg vieler ehemaliger Kleine-Leute-Viertel in europäischen Großstädten, sei es München-Schwabing, der Prenzlauer Berg in Berlin, die Altstadt von Nizza oder der Montmarte in Paris. Jahrelang interessiert sich niemand für sie. Die Häuser verkommen, weil die Bewohner kein Geld haben. Die niedrigen Mieten ziehen Studenten und Künstler an, die verrückte Läden und Ateliers aufmachen. Dann kommen die Designer, die Boutiquen und Leute, die sich ein schickes Nest in der Innenstadt einrichten wollen.

Frankreich Marseille Plakate

Man äußert sich in Le Panier

„Die wollen hier einen Montmartre machen, ein Freilichtmuseum“, fürchten viele Panier-Bewohner. Wie das aussehen könnte, zeigt ein riesiges Plakat, das die Stadt auf einer großen Freifläche aufgestellt hat. „Wohnumfeldverbesserung im Panier“ steht darauf und darunter wandelt eine brave Kleinfamilie über eine große gepflasterte Fläche. An deren Rand sind Betonkübel mit Stechpalmen abgebildet. Es könnte auch die Fußgängerzone von Großkleckersdorf sein.

„So pittoresk war´s auch wieder nicht!“

Schon der Schriftsteller Walter Benjamin ließ sich zwischen den Weltkriegen durchs Panier treiben - mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Zunächst auf der Suche nach Haschisch und Inspiration, später auf der Flucht vor den Nazis, war er am Hafen von Marseille gestrandet, wo er 1940 wie viele andere deutsche Intellektuelle lange vergeblich auf die rettende Ausreisemöglichkeit nach Spanien wartete. Er wohnte mit seinen Leidensgenossen in heruntergekommenen Wohnungen. Mittellos durchstreifte er das Stadtviertel der Halsabschneider, Hehler und Zuhälter: Streunende Hunde, offene Mülltonnen, das Geschrei der Möwen und der Gestank nach Urin vermischten sich mit dem salzigen Duft des nahen Meeres.

Frankreich Marseille Treppenaufgang

Pittoresk?

Heute führt eine in die Provence ausgewanderte Deutsche Touristen und Einheimische auf den Spuren Walter Benjamins durch den Panier. So pittoresk war das Leben hier nicht, schon gar nicht die Prostitution“, wirft eine Zuhörerin ein, „ich musste als Mädchen hier immer durch. Das war gar nicht angenehm.“ Zwischen den „normalen Leuten“ und den Kriminellen und Prostituierten war „auf engstem Raum eine unsichtbare Mauer.“ Auch die Geschichten vom einfachen Marseiller, der hier im Panier mit seiner Familie in und von seinem kleinen Laden lebte, hält die kritische Besucherin für einen Mythos: „Mein Urgroßvater hatte hier so ein kleines Café, er hat getrunken und seinen Sohn geschlagen. Das war das echte Leben.“

Frankreich Marseille Kathedrale

Die Kathedrale thront über der Stadt

Einen Rest davon erahnt man heute noch in der Passage de Lorette am Nordrand des Viertels. Zwischen den graubraunen fünf-, sechsstöckige Mietshäusern, von denen der Putz bröckelt, haben die Bewohner ihre Wäscheleinen gespannt. Von ihren Fenstern aus können sie dem Nachbarn gegenüber fast die Hand geben. Keine fünf Meter ist der geteerte Innenhof breit. Im Winter erreicht das Licht nur die oberen Stockwerke. Unten riecht es muffig-feucht.

 

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