Von der Barockstrasse ins Tal der Wunder

Unterwegs in den französischen Seealpen bei Menton

Text und Fotos: Ulrich Traub

Ja, wie hört sich das denn an! Wenn Lydie Staub in die Tasten ihrer Orgel greift, glaubt man ein Kirmesorchester zu vernehmen. Erst öffnet sich theatralisch ein Vorhang und legt die Orgelpfeifen frei, dann ertönen Pauken, Becken und sogar Glocken in der prunkvoll ausgestalteten Pfarrkirche von Saorge (1). Willkommen im Barock.

Frankreich - Seealpen - Galt als uneinnehmbar: Saorge auf einem Felsvorsprung über dem Tal der Roya

Galt als uneinnehmbar: Saorge auf einem Felsvorsprung über dem Tal der Roya

Keine Führung ohne Orgeldemonstration im tibetanisch den Berg hochgestapelten Ort Saorge, der abgeschieden in den Seealpen im Hinterland der Côte d’Azur liegt. „Wir sind stolz auf unser barockes Erbe“, erklärt Lydie Staub, die selbst ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt. Die reich geschmückten Kirchen in der Region und die bedeutenden Orgeln, meist aus dem 18. Jahrhundert, seien Relikte aus der Epoche, in der diese Region zum Königreich Savoyen gehörte, also von Turin regiert wurde, informiert die resolute Dame mit dem mit Kämmen festgesteckten Haar. Seit einigen Jahren werden im Sommer die „Baroquiales“ und ein Orgelfestival veranstaltet. „Dann sind internationale Barockmusiker in unseren Kirchen zu Gast und das Publikum kommt von weither“, freut sich Lydie Staub.

Frankreich - Seealpen - Lydie Staub bei einer Präsentation der barocken Orgel in der Kirche von Saorge

Lydie Staub bei einer Präsentation der barocken Orgel in der Kirche von Saorge

Eine Barockstraße, wie sie sich durch die Täler der Flüsse Roya und Bévéra nördlich von Menton schlängelt, würde man in dieser Gegend kaum vermuten. Die Zeit, als Prunk und Pracht in die Dörfer an der alten Königsroute zwischen Nizza und Turin einzogen, liegt lange zurück. Heute vermitteln die Orte den rauen Charme ungeschminkter Bergorte, in denen man das Mondäne der nahen Côte d’Azur vergeblich sucht.

Kaum 20 Kilometer sind es von Menton nach Sospel (2) und doch glaubt man hier die Küste Lichtjahre entfernt. Auf den Restaurantterrassen, in den Gassen und auf den Plätzen rund um die Kathedrale mit der mächtigen Barockfassade, dem größten Gotteshaus weit und breit, ist kein Schaulaufen der Eitelkeiten angesagt.
Wer die uralte Zollbrücke ansteuert, um auf der anderen Seite des Ortes im schattigen Café am plätschernden Brunnen eine Pause einzulegen, um danach die vielen Fassaden mit farbenfroher Trompe-l’oeil-Malerei zu bestaunen, wird sich vielleicht wundern, dass die Männer, die am Ufer der Bévéra auf den Bänken sitzen und erzählen, auch auf dem Rückweg immer noch dort sind. Hier schlägt der Puls des Lebens eben etwas gemächlicher. Die Touristen reisen denn auch weniger im Jeep oder Cabrio an und erkunden die Gegend sportlich – als Wanderer oder auf dem Mountainbike.

Frankreich - Seealpen - Sie erinnert an die Königssroute von Nizza nach Turin: die alte Zollbrücke in Sospel

Sie erinnert an die Königssroute von Nizza nach Turin: die alte Zollbrücke in Sospel

Sospel, wo vieles ans nahe Italien denken lässt, ist von Bergen umzingelt. Wen es auf der Barockstraße weiter in die Seealpen zieht, muss Pässe überwinden. Über den Col de Brevis zum Beispiel, wo ein schönes Café auf der Passhöhe Weitblick garantiert. Wanderwege führen von dort in die schroffen Berge. Auch auf der Strecke nach Moulinet (3) müssen Dutzende Serpentinen zurückgelegt werden. Den Blick von der auf einem Felsen erbauten Kapelle Notre Dame de la Menour, die man über eine ausgetretene, grasbewachsene Treppe, die geradewegs in den Himmel zu führen scheint, erreicht, entschädigt für die Kurverei: ein erhabenes Erlebnis.

Im Weiler Moulinet, am Rande des Mercantour Nationalparks, fühlt man sich wie ein Eindringling. Keine Menschenseele, nur das Klappern von Fensterläden und das Plätschern eines Brunnens erfüllt die Gassen. An der himmelblauen Fassade der Kirche nagt sichtbar der Zahn der Zeit. Plötzlich steht man vor dem Restaurant „Le Grain de Sel“. Hier lassen sich gerade ein paar ältere Dorfbewohnerinnen ihr Mittagessen schmecken. Touristen sind willkommen. Die Wirtin empfiehlt Cassolette. „Die wird bei mir noch nach einem alten Rezept zubereitet, mit Ravioli und Steinpilzen“, fügt sie hinzu. Eine leckere Stärkung für die nächste Etappe, schließlich befindet man sich hier auf der Wegführung der legendären Rallye Monte Carlo.

Frankreich - Seealpen - Spielstätte der Sommerkonzertreihen: Blick in die Kathedrale von Sospel mit ihrer barocken Ausstattung

Spielstätte der Sommerkonzertreihen: Blick in die Kathedrale von Sospel mit ihrer barocken Ausstattung

Abends wartet in der Kathedrale von Sospel ein Konzert der „Baroquiales“. „Das dürfen Sie nicht verpassen“, hatte Lydie Staub gesagt. Tatsächlich ist es ein unvergessliches Erlebnis, Musiker zu erleben, die mit alten Instrumenten wie Theorbe oder Psalterion in die Welt des Barock entführen – in einem ‚Bühnenbild’, das passender nicht sein könnte. Die Opulenz der Klänge inmitten des üppigen Dekors: wahrhaft prächtig.

Frankreich - Typisch Seealpen: Auch in Tende stapeln sich die Häuser am Berg

Typisch Seealpen: Auch in Tende stapeln sich die Häuser am Berg

Lange vor dem Barock haben schon einmal Menschen in dieser Region Zeugnisse hinterlassen, die heute Kultur- und Naturfreunde gleichermaßen anziehen. Es waren Bauern und Schäfer vor rund 4.000 Jahren. Ihre phantasievollen Felszeichnungen, in denen sie von ihrem Leben berichteten, finden die Wanderer in den Bergen oberhalb von Saint-Dalmas de Tende (4), im Vallée des Merveilles, dem Tal der Wunder.
„Es ist keine anspruchsvolle Wanderung, ohne große Steigungen“, motiviert der Chef vom Hotel „Mirval“ in La Brigue und händigt die Proviantpakete aus. Die Tatsache, dass die Wanderer allerdings gelegentlich von Touristen-Jeeps überholt werden, könnte stutzig machen. Aber wer es bis zu den Bergseen am Fuße des von Mythen umrankten Mont Bégo geschafft hat, wird die Anstrengungen schnell vergessen. Auf die nicht so Sportlichen wartet das Museum in Tende, das umfangreich über das Tal der Wunder informiert und Deutungen der verblüffenden wie rätselhaften Zeichnungen der Bronzezeit versucht.

Frankreich - Seealpen - Auf dem Weg zu den Felszeichnungen aus der Bronzezeit: Wanderin im Tal der Wunder

Auf dem Weg zu den Felszeichnungen aus der Bronzezeit: Wanderin im Tal der Wunder

Aber Hotelier Jean-Jacques Dellepiane verrät auch einfachere Wandertipps. Schön sei der flache Weg am Flüsschen Levenza entlang. Ziel sei Notre-Dame-des-Fontaines. „Die Kapelle liegt mitten im Wald, umgeben von mehreren Quellen. Ein Muss für Kulturfreunde.“ Tatsächlich, ihr Inneres ist vollständig mit farbenprächtigen Wandmalereien aus dem 15. Jahrhundert ausgekleidet, die sehr bildhaft aus dem Leben Christi erzählen. Es muss ja nicht immer barock sein.

In den französischen Seealpen haben Kultur und Natur auf einladende Weise zusammengefunden. Ein überzeugendes Beispiel ist auch das ehemalige Kloster aus dem 17. Jahrhundert hoch über dem Roya-Tal in Saorge. Wo früher die Franziskaner Armut predigten, steht heute der Reichtum der Kreativität im Mittelpunkt. Das Gebäude aus der Barockzeit, umgeben von grünen Hängen und schroffen Gipfeln, ist ein Kulturzentrum geworden, in dem sich Künstler in Klausur begeben und Veranstaltungen für die Öffentlichkeit stattfinden. Saorge, das autofreie Dorf, das früher als uneinnehmbar galt, hat sich weit geöffnet – wie die anderen Gemeinden in den Tälern von Roya und Bévéra.

Frankreich - Der unaufgeregte Charme der Seealpen: Platz vor der Kirche von La Brigue

Der unaufgeregte Charme der Seealpen: Platz vor der Kirche von La Brigue

Reiseinformationen zu den Seealpen

Tourismusinformationen

Atout France (nur per Mail zu erreichen)
E-Mail: info.de@rendezvousenfrance.com
Internet: www.cotedazur-tourisme.com, www.royabevera.com

Hoteltipps

Auberge Provencale, Route du Col de Castillon
2-Sterne-Haus in Sospel (herrlicher Blick über den Ort und in die Berge), www.aubergeprovencale.fr

Le Mirval, Rue Vincent Ferrier 3
2-Sterne-Haus in La Brigue (Wandererhotel), www.lemirval.com

Veranstaltungen

www.lesbaroquiales.com, www.orgue-saorge.fr

 

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