Chaotisch, widersprüchlich und absolut einmalig

Kalkutta: Erfahrungen zwischen Mythos und Realität

Text: Beate Schümann
Fotos: Dirk Renckhoff

Indien / Kalkutta / SchmuckstandEin eindeutiges Fazit mochte unsere Autorin nicht ziehen, dafür waren ihre Erfahrungen in Kalkutta zu gegensätzlich. Beate Schümanns differenzierter Blick auf eine Stadt, die seit Mutter Theresa hauptsächlicher für Bilder von Hunger und Elend steht, hat deshalb auch keinen üblichen Reisebericht hervorgebracht. Statt dessen schreibt sie von indischer Wirklichkeit vor der Fassade des britischen Empire, von Kranken und Arbeitslosen zwischen Ambassador-Limousinen, von Glanz und Elend, die dort ganz dicht beieinander liegen.

„Neun Meter Stoff sind da drin“, antwortet Sanjit lächelnd auf die ungewöhnliche Frage. Der Portier in der weißen Prachtuniform mit dem roten Turban und den großen Goldknöpfen, der am Eingang des eleganten Kolonialhotels Oberoi Grand steht, bewahrt auch bei 32 Grad Hitze noch Haltung. Neun Meter, und er ist in weniger als drei Minuten gewickelt. Ein Turban, wie Maharadschas ihn tragen.

Immer noch britisches Empire

Das weiße Luxushotel ist mit Abstand das beste Stück in der viktorianischen Prachtstraße Chowringhee, an der es schon seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts residiert, die später aber nach Jawaharlal Nehru, dem ersten Regierungschef des unabhängigen Indiens, benannt wurde. Den Nachbarbauten sieht man die große Vergangenheit zwar noch an, doch der Glanz ist weg.

Indien / Kalkutta / Kolonialgebäude

Kolonialgebäude (High Court)

Dass in Kalkutta einmal das Herz des britischen Riesenreiches pochte, ist hier im Zentrum deutlich zu spüren. Politik und Pomp, Regierungs- und Verwaltungspaläste, Villen und Memoriale, großzügig angelegte Parks und Plätze und zig Standbilder von Gouverneuren erinnern an die Präsenz des britischen Empires seit 1774.

Indien / Kalkutta / Victoria Memorial

Victoria Memorial

Auch wenn Queen Victoria, Kaiserin von Indien, den Subkontinent nie betreten wollte, sitzt sie jetzt für die Ewigkeit vor dem Victoria Memorial im Maidan-Park, eine Melange aus Taj Mahal und Washingtoner Capitol.

Kalkutta, das heute Kolkata heißt, wurde erst nach gut 150 Jahren entthront. 1911 zog die Regierung ins nördlichere Delhi um. Doch Delhi mag Hauptstadt sein und Mumbai Boomtown, Kalkutta ist Indiens Kulturmetropole. Allein 29 Theater, 33 Museen, 42 Medien und 114 Kinos werden gezählt. Fast alle bekannten Schriftsteller stammen von hier, auch Rabindranath Tagore, der Goethe Indiens, der 1913 den Nobelpreis für Literatur erhielt. In Bengalen ist die geistige Elite des Landes zu Hause.

... und überall Menschen

Indien / Kalkutta / Schuhputzer

Mitten im Stadtkern, noch immer stark von der britischen Kolonialgeschichte geprägt, begegnet man Indien hautnah. Fliegende Händler verkaufen am Straßenrand Chilischoten, Kautabak, Messingkrüge, Plastikschuhe und Armreifen. Lastenträger bahnen sich ihren Weg durch die Massen. Schuhputzer (Foto oben), Briefeschreiber, Zahnzieher, Haarschneider und Ohrreiniger belegen die Gehwege, dazwischen Obdachlose, Kranke und Hungernde. Fahrrad-Rikschas zwängen sich zwischen gelbe Taxis, Motorroller, Scooter, alte Ambassador-Limousinen und dröhnende Lastwagen. Und überall Menschen.

Indien / Kalkutta / Händler

Fliegender Händler mit Gemüse

Alle suchen verzweifelt Broterwerb. Spätestens seit Mutter Teresa steht Kalkutta für Bilder von Hunger und Elend. Offiziell leben zwei Drittel der Bevölkerung in Slums. Glanz und Elend liegen so eng beieinander.

Es ist Zeit, zum Ganges zu gehen. Wer Kalkutta verstehen will, geht zum Fluss. Genauer gesagt zum Hooghly, einem Nebenarm des Ganges. Das Ufer ist in Ghats gegliedert, wo gläubige Hindus beten, Tote verbrannt und magische Rituale gelebt werden. Rund drei Viertel der 14 Millionen Einwohner sind Hindus, die übrigen vor allem Moslems, Jains und Buddhisten.

Glanz in der Gosse 

Am Babu Ghat herrscht morgens Hochbetrieb. Männer mit Lendentüchern und Frauen in Saris, Priester und Pilger, Junge und Alte steigen bis zum Hals in den trüben Fluss. Haare waschen, Zähneputzen, Maniküre, Pediküre - alles wird mit und am heiligen Wasser erledigt.

Indien / Kalkutta / Leben am Fluss

Leben am Babu Ghat

An den Ghats, wo jeder hinmachen darf - Kinder, Alte, Krähen, Schweine und Hunde - stinkt der Ganges zum Himmel. Nur die leuchtend gelb-, rot- und orangefarbenen Stoffbahnen, die hier hocken, stehen, wandeln, sorgen für Glanz in der Gosse. Die Saris der Frauen sind von solcher Sinnenpracht, dass sie fast vergessen lassen, in welcher Armut die Menschen leben. Gegensätze, die normal sind in Indien.

Indien / Kalkutta / Leben am Fluss

Leben am Babu Ghat

Am nächsten Ghat stehen Priester für die Totenbeweinung bereit. Räucherstäbchen qualmen. In kleinen Tempelchen türmen sich vor den Miniaturen von Shiva, Vishnu und anderen Göttern Opfergaben, mit denen die Hindus sie für die Erfüllung ihrer Wünsche gewinnen wollen.

Indien / Kalkutta / Statuenversenkung

Tonstatue von Lakshmi wird geopfert

Mit großer Ehrfurcht werden Tonstatuen von Lakshmi, der Göttin des Wohlstandes, im Fluss versenkt. Dort lösen sie sich auf. Ein ewiger Kreislauf.

Kali liebt Opfergaben

Vom Ghat aus zeichnet sich die Howrah-Brücke im städtischen Dunst ab. Sie hat als meist benutzte Brücke der Welt einen Namen. Jeden Tag schieben und drängeln sich an die fünfzigtausend Fahrzeuge und eine Million Menschen durch dieses Nadelöhr.

Indien / Kalkutta / Howrah-Brücke

Blick auf die Howrah-Brücke im Hintergrund

Unterhalb der markanten Stahlkonstruktion, dem Wahrzeichen Kalkuttas, liegt der Blumenmarkt, wo Händler Blüten per Gewicht verkaufen. Lose oder zu Ketten aufgezogen stapeln sich die Gaben für den Götterhimmel - die goldene Tagetes für Vishnu, die violette Akanthus für Shiva und der rote Hibiskus für Kali.

Indien / Kalkutta / Blumenmarkt

Blumenmarkt

Indien / Kalkutta / Blumenketten

Zu Ketten aufgezogene goldene Tagetes für Vishnu

Kali, die schwarze Schutzpatronin der Stadt, zugleich Göttin des Zorns und der Mütterlichkeit, gab Kalkutta einst den Namen und der Kalighat-Tempel ist das wichtigste Hindu-Heiligtum der Stadt. Äußerlich eher unspektakulär, ist er täglich Anlaufstelle für Menschenmassen, die die mehrarmige Schreckensfigur mit blutrünstiger Zunge inbrünstig verehren. Kali liebt Opfergaben wie Blumen, Kokosnüsse, Basilikum und Geldscheine, die zuhauf ins Innere getragen werden, das für Nicht-Hindus jedoch gesperrt ist. Hinter dem Tempel befinden sich die Holzblöcke mit Gabeln, in die die Priester die Hälse von Ziegen und Wasserbüffeln klemmen und ihr blutiges Werk verrichten. Kali ist mit Blüten und Beten allein nicht zufrieden.

Indien / Kalkutta / Kali-Statue

Lehmrohling für Kalifigur

Zurück im Hotel fragt Sanjit nach unserem Tag. Wir finden Kalkutta chaotisch, widersprüchlich, aufregend, absolut einmalig. „Nehru hat einmal gesagt“, meint der Portier, „Indien sei ein Bündel von Widersprüchen mit der flüchtigen Eigenart einer alten Legende. Sie ist ein Mythos, ein Traum und eine Vision, doch sehr real und gegenwärtig.“ Irgendwie trifft das besonders auf Kalkutta zu.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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