Die letzten Inseln im reißenden Strom der Globalisierung

Kibbuz-Siedlungen in Israel

Text und Fotos: Robert B. Fishman

„Ich möchte zurück zu den schönsten Tagen meines Lebens, die Barfuß-Tage von Benyamina, als alles langsam floss, die Sonne sich noch Zeit ließ, die Leute sich freundlich grüßten und ein Freund ein Freund war“ singt der 2005 verstorbene Dichter und Liedermacher Ehud Manor und fragt am Schluss: „Was ist aus dem Kind geworden, das plötzlich aufstand und verschwunden ist“.

„Kein Israeli, der das Land liebt, kann das Lied ohne Tränen hören. Auch ich nicht“, schreibt die aus dem Rheinland stammende Bloggerin Silja, die vor 20 Jahren als Studentin ein Semester im Kibbuz Dalija bei Haifa verbrachte und blieb. Heute lebt sie mit ihrem Mann und den vier Kindern in einem liebevoll restaurierten Reihenhaus mit Blick über die Hügel des Carmel-Gebirges. In Dunst am Horizont verschwimmen die Häuser von Haifa. „Ich habe mich damals in das ganze Paket verliebt“, schwärmt Silja: „In meinen Mann, den Kibbuz und das Land“.

Israel - Dalija

Älteres Paar in Dalija

Das Land hat sich verändert. Der Kibbuz auch. Als in den 90er Jahren Siljas Bruder zu Besuch kam, staunte er über die frei zugänglichen Kühlschränke im Speisesaal. Wer Hunger hatte, bediente sich so oft er oder sie wollte. „Wir waren immer stolz darauf, dass der Kibbuz auf Vertrauen aufgebaut ist und dass niemand das Vertrauen ausnutzt“, erinnert sich Silja an das vergangene Jahrhundert. 

Die Zeiten sind vorbei, in Dalija ebenso wie in den anderen rund 270 Kibbuz- Siedlungen. Rund drei Viertel der Kibbuzbewohner zahlen inzwischen ihr Essen selbst, ein Drittel der Arztpraxen in den Kibbuzim sind privatisiert. Für ihre Stromrechnung kommen vier von fünf der Kibbuznikim genannten Bewohner selbst auf und zwei Drittel verdienen ein eigenes Gehalt.

„Eine Gemeinschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete“

Vor allem älteren Kibbuzbewohnern gilt derlei als Umsturz, manchen gar als Untergang der Welt, für die sie ihr Leben lang gekämpft haben.

Israel - Haus im Kibbuz

Im 2-Zimmer Reihenhaus von Ilana Michaeli

„Je zwei Familien teilten sich einen Waschraum, vier Familien wohnten in einem Haus“, erinnert sich die Deutsche Ilana Michaeli. 1939 floh sie als Jugendliche vor dem Terror der Nazis in den Kibbuz Hasorea bei Afula. In akzentfreiem Deutsch erzählt die 86jährige von ihren ersten, harten Jahren im Kibbuz. Die Schwarz-Weiß-Fotos in ihrem Album zeigen kräftige junge Männer, die aus dicken Baumstämmen Häuser bauen und auf Urtieren ähnlichen Traktoren das Land bestellen. Manche mähen die Felder mit der Sense. Heute wohnt sie zwischen ihren Erinnerungen in einem kleinen kibbuztypischen 2-Zimmer Reihenhäuschen: Weiße, verwitterte Würfel aus Ziegelsteinen oder Beton mit dünnen Wänden. Im einem alten, abgewetzten Ledersessel, einem Sofa und einer Schrankwand Modell Eiche-Imitat gefüllten Wohnzimmer surrt die elektrische Klimaanlage. Ihre Freizeit verbringt die weißhaarige Dame mit den wachen Augen gerne am Computer. Ich habe Freunde in der ganzen Welt, mit denen ich per E-Mail korrespondiere“, erzählt sie stolz.

Seit der Staat die Wirtschaft privatisiert und ausländische Investoren ins Land lockt, weht auch in Israel der eisige Wind des Weltmarkts. Viele der kleinen Kibbuzbetriebe halten der internationalen Billig-Konkurrenz nicht stand. Die Landwirtschaft, die bis in die 90er Jahre zwei Drittel der Kibbuzeinnahmen lieferte, lohnt sich wie in Europa kaum noch.

In Deganya B ernähren Viehzucht, Dattel- und Bananenplantagen sowie eine Fabrik für landwirtschaftliche Sprühgeräte die Kibbuznikim mehr schlecht als recht. Die Bewohner von Gan Shmuel leben ganz gut von Israels größter Saftfabrik, an der sich inzwischen ein ausländischer Investor beteiligt hat.

Israel - Bananen in Deganya

Bananenstauden in Deganya

Wie viele Kibbuzmitglieder schätzt die fröhliche US-Amerikanerin, die in der Wäscherei arbeitet und ein Mal pro Woche in der kibbuzeigenen Schule Englisch unterrichtet, „dass man hier immer genug zu essen und ein Dach überm Kopf hat. Wenn Du krank bist, kümmert sich immer jemand um Dich und die Kinder haben immer alles, was sie brauchen, auch wenn sie keine Massen von Spielzeug bekommen.“

Die Kibbuzim haben die Mentalität ihrer Bewohner geprägt. „Sorglosigkeit“ sagt man ihnen nach - im Positiven wie im Negativen. Sie kennen keine Existenzsorgen und gelten als naiv. Den Umgang mit Geld müssen sie draußen erst mühsam lernen. Besonders ausgeprägt ist in den Kibbuzim die Sorge um den Nächsten. Diana, eine Theaterregisseurin, die in New York, Chicago und Tel Aviv gelebt hat, wohnt mit ihren beiden Kindern im abgelegenen Wüstenkibbuz Qetura. In der Gemeinschaft fühlt sie sich sicher und geborgen. Als ihre Mutter gestorben war, „haben alle angerufen, Essen gebracht und ihre Hilfe angeboten. Das bekommst Du sonst nirgends“, schwärmt sie. Wie viele Kibbuzmitglieder schätzt die fröhliche US-Amerikanerin, die in der Wäscherei arbeitet und ein Mal pro Woche in der kibbuzeigenen Schule Englisch unterrichtet, „dass man hier immer genug zu essen und ein Dach überm Kopf hat. Wenn Du krank bist, kümmert sich immer jemand um Dich und die Kinder haben immer alles, was sie brauchen, auch wenn sie keine Massen von Spielzeug bekommen.“

„Die Kibbuzim haben ihre jungen Leute zu unabhängigen, selbstbewussten, weltoffenen Menschen erzogen“ sagt Shlomo Getz vom Kibbuzforschungsinsitut der Universität Haifa. „Damit hatten sie so großen Erfolg, dass die jungen Leute glauben, alles erreichen zu können und meinen, den Kibbuz nicht mehr zu brauchen. Das Kibbuzsystem war es ja, das den jungen Leuten alle Wege öffnet.“

Mit zahlreichen Reformen versuchen die Kibbuzim, junge Leute anzulocken und ihren wirtschaftlichen Niedergang zu stoppen: Die Gehälter, die einst aufs Gemeinschaftskonto flossen, werden nun direkt an die Mitglieder überwiesen. Viele, die für die „Privatisierung“ genannten Änderungen stimmen, sehen nicht, welche Kosten danach auf sie zukommen. Lebensmittel, Strom, Wäscherei, Arztrechnungen und alle anderen Lebenshaltungskosten müssen die Kibbuzbewohner nun selbst bezahlen. Wer einen gut bezahlten Job außerhalb hat, lebt nach der Privatisierung besser. Die Alten und gering Qualifizierten, die der Kibbuz bislang irgendwo mit beschäftigte und ernährte, verlieren ihre Lebensgrundlage und ihre Arbeit, die sie zum Teil der Gemeinschaft machte.  

Dennoch freut sich der 62jährige Erich König im kahlen Speisesaal des Kibbuz Deganya auf die Privatisierung. Als freiberuflicher Fremdenführer verdient der Grazer, der seit 40 Jahren im Kibbuz lebt, mit einem Tagessatz von umgerechnet 120 Euro für israelische Verhältnisse „nicht wenig“. Seine Frau, die in Deganya aufgewachsen ist, leitet den Speisesaal und bringt als freiberufliche Schauspielerin und Regisseurin ein weiteres Einkommen nach Hause. Bislang geben das steirisch-israelische Paar bis auf ein Taschengeld von 550 Euro im Monat ihre Einnahmen an die Gemeinschaft ab. Die bezahlt das Essen, die Wohnung, das Wasser, die Wäscherei, den Kindergarten und die Schule der Kinder und vor allem alle Gesundheitskosten. Auch die Autos gehören dem Kibbuz. Wer sich rechtzeitig anmeldet darf für ein paar Cent je Kilometer damit fahren.

Israel - Speisesaal in Deganya

Kahler Speisesaal des Kibbuz Deganya

Einen Zusammenhang zwischen Privatisierung und wirtschaftlichem Erfolg eines Kibbuz sieht Shlomo Getz vom Kibbuzforschungsinstitut der Uni Haifa nicht: „Es gibt privatisierte Gemeinschaftssiedlungen, die Verluste anhäufen und solche, die erfolgreich als Kommune wirtschaften.“

Das moderne Israel, wandelt sich immer mehr zu einer individualistischen Konsumgesellschaft nach US-amerikanischem Vorbild. Die Ideen der sozialistischen Pioniere sind out. Doch es gibt auch erfolgreiche Neuanfänge. Vier so genannte Stadtkibbuzim greifen die Ideen der Gründer auf. Bei der Umsetzung gehen sie andere Wege.

Am Rand von Beit Shemesh bei Jerusalem haben sich 15 Familien vier schmucke Häuser mit je vier großzügigen Wohnungen gebaut. „Die gehören den Banken“, erklärt Ofer lächelnd. Mit seinen beiden Kindern wohnt der 36jährige im Stadtkibbuz Tamuz, das sich „als jüdisch, sozial und demokratisch“ definiert. Alle Begriffe seien dabei gleich wichtig.

In den 80er Jahren zogen die Gründer gemeinsam in ein leer stehendes, herunter gekommenes Hochhaus am Stadtrand. Viele von ihnen waren Kibbuzkinder, die von ihren Mitbewohnern auf dem Lande enttäuscht waren. „In den großen Kibbuzim mit mehr als 100 Leuten kennen sich die Leute untereinander oft nicht mehr“, erklärt Ofer. Vor allem wollten die Gründer  der „Überregulierung“ in den traditionellen Gemeinschaftssiedlungen entfliehen. Wer studieren oder ins Ausland fahren will, einen neuen Kühlschrank braucht oder seine Wohnung umbauen möchte, benötigt dafür die Genehmigung eines Ausschusses, der über einzelne Etats im Kibbuzhaushalt bestimmt

Gemeinschaft ohne starre Regeln

In Tamuz gibt es „keine Ausschüsse und keine festen Regeln.“ Einerseits entscheidet jeder und jede selbst, ob er oder sie zum Beispiel studieren möchte. „Andererseits muss er dabei eigenverantwortlich die Interessen der Gemeinschaft beachten – zum Beispiel das begrenzte Budget“ erklärt Ofer. „Bisher hat das immer funktioniert“, versichert Ofer, „weil wir so Wenige sind.“ Das Leben in der Gemeinschaft empfindet Ofer ebenso wie sein Mitbewohner Ron Shatzberg mit seinen vier Kindern als „sehr intensiv“. Neben Job, Familie und Kibbuz engagieren sich die Bewohner von Tamuz in Beth Shemesh. Die Stadt gilt mit ihren vielen Neueinwanderern und Ultra-Religiösen als sozialer Brennpunkt. Die Mitglieder des Stadt-Kibbuz betreiben ein Rechtsberatungsbüro für Leute in Schwierigkeiten und unterrichten ehrenamtlich Kinder aus armen Familien. Zwei Mal im Jahr organisieren sie einen Flohmarkt, auf dem sich Bedürftige aus der Umgebung mit Kinderkleidung eindecken. Außerdem geben einige eine sozialistische Zeitschrift heraus und arbeiten in der Politik mit. Für den als Sozialdemokraten angetretenen derzeitigen Verteidigungsminister Amir Peretz, einst ein Hoffnungsträger der israelischen Linken, verteilten sie im Wahlkampf Flugblätter.

Auch einige traditionelle Kibbuzim haben sich inzwischen der Umgebung geöffnet. Kinder aus dem Umland besuchen die Kibbuz-Kindergärten und Schulen, die landesweit einen guten Ruf haben. Hier sind die Gruppen kleiner und die Erzieherinnen gehen mit den Kindern oft in die Natur. Erziehung im Kibbuz ist ganzheitlicher als in den Städten. Die Kinder lernen auf dem Kibbuzgelände auch die Arbeitswelt der Erwachsenen kennen.

Ganz in der Nähe von Tamuz hat der Kibbuz Tsorah trotz finanzieller Sorgen ein Kulturzentrum gebaut, in dem Kinder und Jugendliche aus dem Kibbuz und aus der Umgebung Tanz- und Musikkurse besuchen. „Die Eltern der Kinder kommen aus dem Jemen, dem Irak, Marokko und es sind auch einige Araber dabei“, erklärt der 83jährige Kibbuznik Sol Etzioni mit leuchtenden Augen. Die Kinder der Einwanderer lernen hier Instrumente, die ihre Eltern nie gehört oder gesehen haben und sogar klassisches Ballet. „Wenn mir das jemand vor 50 Jahren erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt“, ergänzt Etzioni strahlend. Als der Australier vor mehr als 50 Jahren nach Tsorah kam, bestand der Kibbuz nur aus einigen Holzhütten. „Damals gab es hier im Tal nur einen Baum“, erinnert sich Etzioni und zeigt auf die dunkelgrünen Bäume vor dem Fenster seiner kleinen Wohnung. Die Kibbuznikim haben mit Unterstützung des Nationalfonds Keren Kayemet Le Israel einen der größten Wälder des Landes angelegt.

Inzwischen diskutieren sich die gut 600 Bewohner des Kibbuz Dalija über die „Privatisierung“ die Köpfe heiß. Auf den wöchentlichen Vollversammlungen, auf denen die Mitglieder der Kibbuzim alles gemeinsam entscheiden, fliegen hier wie andernorts die Fetzen. Silja sieht den Wandel mit gemischten Gefühlen. Israel sei eben ein Teil der globalen Entwicklung, in der „alles zur käuflichen Ware wird“. Erfolg und Fortkommen berechne sich nur noch in Geld und Statussymbolen. Ihr Kibbuz empfindet Silja als „kleine Insel“, die in diesem Strom mitgerissen wird.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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