Die Stadt der vielen Wahrheiten

Litauens Kapitale Vilnius

Text und Fotos:  Robert B. Fishman

Auf einer Halbinsel mitten in Vilnius gehen die Uhren anders: Eine halb im Scherz, halb im Ernst zur selbstständigen Republik Užupis ausgerufene Künstlerkolonie hat sich eine eigene Welt geschaffen. Drum herum liegt Osteuropas größte, barockprächtige Altstadt mit an die 50 Kirchen aller Konfessionen, kopfsteinpflasterkrummen Gassen, modernen Studentencafés und letzten Resten des untergegangenen Sowjetreichs.

Litauen - Vilnius - Blick vom Dachbalkon des neuen Rathauses auf die Altstadt

Blick vom Dachbalkon des neuen Rathauses auf die Altstadt

Der Präsident ist ein vielbeschäftigter Mann. „Er ist in Portugal“, meint einer seiner Untertanen „nein in der Mongolei“, korrigiert ein Zweiter, während der Staatschef gerade um die Ecke kommt. Der Mann mit dem angegrauten Dreitagebart und den wasserblauen Augen trägt Verantwortung, sehr viel Verantwortung - „zum Beispiel für den Wind, unsere vier Flaggen- eine für jede Jahreszeit - und für unseren Kalender.“ Das Jahr beginnt in der Republik Užupis am Frühlingsanfang. „Da werfen wir symbolisch alle Vorurteile ins Feuer“, erklärt Präsident, Filmemacher und Künstler Roman Lileikis, „so haben wir wieder Platz für Neue“. Am 1. April feiert man die Unabhängigkeit und jeden Samstag einen Markt. Ostermontags, am „Tag der weißen Tische“, bringen die Leute Essen und Getränke in den großen Biergarten an der Brücke nach Užupis. Dann genießen alle gemeinsam.

Litauen - Vilnius - Künstlerrepublik Uzupis: frisch Vermählte haben als Zeichen ihrer Verbundenheit Vorhängeschlösser mit ihren Namen an die Brücke von Uzupis gehängt

Frisch Vermählte haben als Zeichen ihrer Verbundenheit Vorhängeschlösser mit ihren Namen an die Brücke von Užupis gehängt

„Straße des Todes“ steht immer noch in blutroter Schrift auf einer Hauswand an der Hauptstraße von Užupis, dem „Messerstecher“-Stadtteil, in dem einst die Armen lebten. Dann kamen die Künstler und jetzt die Investoren. Die verfallenen Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert werden nach und nach teuer restauriert. Seit Gründung der Republik vor gut elf Jahren ist das in einer Schleife des Flüsschen Vilnelè gelegene uralte Viertel ein gefragtes Wohnquartier. In den schon renovierten Häusern eröffnen immer mehr Galerien und Cafés. Die Innenhöfe, in denen zwischen Toilettenhäuschen und verfallenden Häuserwänden die Anwohner ihre Sommerabende unter alten Bäumen im Grünen verbringen, wird es so nicht mehr lange geben.

Litauen - Vilnius - Künstlerrepublik Uzupis: unrenovierte Häuser  an der Hauptstraße Uzupio gatve

Unrenovierte Häuser an der Hauptstraße Užupio gatve

„Alles Übel“, sagt Roman Lileikis, entstehe doch aus dem Wunsch zu haben und zu besitzen“. Deshalb zeigt die Flagge von Užupis eine Hand mit einem Loch. „Alles fließt, wie unser Flüsschen hier.“

„Unser Land“, verspricht der Präsident, „ist so klein, da ist Platz für alle“. Dem Dalai Lama, der wie viele Diplomaten schon auf „Staatsbesuch“ in Užupis war, gab er auf eine schwierige Frage eine einfache Antwort. „Was macht ihr mit Kriminellen“, wollte der Tibeter wissen. „Wir leben mit Ihnen“, erwiderte Lileikis. „Wenn man sie kennt, mit Namen anspricht, beachtet und respektiert, geben sie Ruhe.“ Und das klappt? „Ja, zumindest hier.“

Litauen - Vilnius - Roman Lileikes, Filmemacher, Regisseur und "Präsident" der unabhängigen Künstlerrepublik Uzupis

Roman Lileikes, Filmemacher, Regisseur und "Präsident" der unabhängigen Künstlerrepublik Užupis

Bürger von Užupis sind sie nicht alle, aber „wohl die meisten“ der etwa 7000 Einwohner auf der Halbinsel, vermutet der Präsident. „Bürger wirst Du mit dem Herzen, indem Du Dich zu den Werten unserer Verfassung bekennst.“ Die hängt in mehreren Sprachen - in silber glänzendes Metall graviert - riesengroß an einer Hauswand. Jeder hat das Recht zu lieben, einmalig zu sein, Fehler zu machen, missverstanden zu werden, glücklich oder unglücklich zu sein. Garantiert ist auch das Recht zu weinen. Aber: „Niemand hat ein Recht auf Gewalt“ und „Der Hund hat das Recht ein Hund zu sein“, heißt es in der Verfassung. „Die Katze muss ihren Besitzer nicht lieben, ihm aber in der Not helfen.“

Litauen - Künstlerrepublik Uzupis: Touristen lesen die Verfassung der Republik

Künstlerrepublik Užupis: Touristen lesen die Verfassung der Republik

Wahrheiten gibt es viele in Litauens Hauptstadt Vilnius, die 2009 den Titel Europäische Kulturhauptstadt erhielt. 14 Kirchtürme sieht Roman Lileikis von seinem Fenster aus, guter Durchschnitt in der Stadt, der polnische Jesuiten mit ausladendem gegenreformatorischem Barock im 16. Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten. An die 50 Kirchen fast aller christlichen Konfessionen ragen aus der Silhouette der mit 360 Hektar größten Altstadt Osteuropas, die die Vereinten Nationen zum Weltkulturerbe erhoben hat. Verschwunden sind die Synagogen. 1939 bekannte sich rund jeder dritte Einwohner der Stadt zum jüdischen Glauben. Berühmte Gelehrte wie der „Gaon von Wilna“ Eliyahu Ben Salomon Zalman (1720-1779) begründeten einst den Ruf Wilnas, wie Vilnius früher hieß, als „Jerusalem des Nordens“ und Heimat der jüdischen Aufklärung Haskala.

Nur wenige der einst etwa 60.000 Wilnaer Juden haben den Holocaust überlebt. Eine kleine Gedenktafel erinnert in der Altstadt an das größte von Nazis abgeriegelte jüdische Ghetto in Nordosteuropa. Dem offiziellen „Genozidmuseum“, das sich ausgiebig mit der sowjetischen Besetzung Litauens und den stalinistischen Verbrechen befasst, sind die ermordeten Juden der Stadt keinen Hinweis wert.

Litauen - Vilnius - Jiddischkurs an Yiddish Institute an der Universität

Jiddischkurs am Yiddish Institute an der Universität

Die Erinnerung bewahrt das kleine jüdische Museum, das in einem brüchigen grünen Holzhaus versteckt am Rande der Innenstadt liegt. Originalfotos zeigen, wie aufgehetzte christliche Litauer auch ohne deutsche Mithilfe ihre jüdischen Nachbarn zu Tode prügelten. Allein in Panerai, rund zehn Kilometer außerhalb von Vilnius, erschossen die Nazis und ihre Helfer 70.000 Menschen. Die Ausstellung erinnert auch an die Litauer, die Verfolgte versteckt haben, an den Wiener Anton Schmid, der in Vilnius 3000 Juden das Leben rettete und an den Widerstand in den Ghettos.

Die wenigen, die – meist durch die Kanalisation - entkamen, schlossen sich den Partisanen an. Im Juli 2008 arbeitete die litauische Staatsanwaltschaft an einer Anklage gegen die letzten Überlebenden. Der Vorwurf: Mord an Litauern. Nicht nur Museumsdirektorin Rachel Konstanian, die als Zeugin vorgeladen wurde, ist entsetzt. „Das schadet doch auch dem Image Litauens in der Welt.“

Litauen - Vilnius - Uzupis - Kathedrale

Blick auf die Kathedrale mit Glockenturm

Den Touristen zeigt sich Vilnius gerne weltoffen. In Scharen bestaunen die Gäste die in frischen Pastellfarben gestrichene, barocke Pracht der Kirchen, die an schicken Cafés und Restaurants reiche Flaniermeile Piles-Straße, das Tor der Morgenröte mit seiner Wallfahrtskapelle und den vielen silbernen Votivtafeln, das klassizistische Rathaus, die 1579 gegründete Universität mit ihren 13 im italienischen Renaissancestil erbauten Innenhöfen, die Kathedrale und Präsidentenpalast. Den Weg über die 1952 von den Sowjets gebaute „Grüne Brücke“ finden nur wenige. Am anderen Ufer der Neris frisst sich das moderne Europaviertel mit seinem Einkaufszentrum und den gläsernen Hochhäusern immer tiefer in die letzte Holzhaussiedlung der Stadt. „Hier leben die sogenannten Zigeuner“, erklärt Frank Wurft, ein junger Deutscher, der vor rund zehn Jahren nach Vilnius gezogen ist. Auf seinen dreistündigen Fahrradtouren zeigt er die etwas außerhalb gelegene, mit prachtvollem Stuck verzierte Peter- und Paul-Kirche ebenso wie das ehemalige sowjetische Einkaufszentrum „Minsk“, Plattenbau-Vororte, den früheren Kulturpalast des Innenministeriums sowie überraschende Blicke von den Hügeln der Umgebung und von einem Parkhausdach auf die Altstadt. „Die Litauer“, meint Frank, gelten als die Italiener des Baltikums“, spontaner und etwas chaotischer als die Nachbarn im Norden.

Litauen - Vilnius - Skulpturen aus der Sowjetzeit auf der "Grünen Brücke" vor der Erzengel St. Raphaelskirche

Skulpturen aus der Sowjetzeit auf der "Grünen Brücke" vor der Erzengel St. Raphaelskirche

Der eher nachdenkliche und bedächtig erzählende Užupis-Präsident Roman ist in den Hinterhöfen von Vilnius aufgewachsen. Er liebt seine überschaubare Heimatstadt, weil „wir hier für unsere Fehler selbst verantwortlich sein können“. Schließlich „musst Du Du selbst sein, bevor Du andere verstehen kannst.“ Litauer, Polen, Juden, Russen, Weißrussen, Katholiken, Orthodoxe - alle seien hier immer friedlich miteinander ausgekommen. „Jeder hat das Recht am Fluss Vilnelè zu leben“, bestimmt Artikel 1 der Verfassung der Republik Užupis und „der Fluss Vilnelè hat das Recht, an jedem vorbeizufließen“.

Litauen - Vilnius - Wappen -Engel auf einer Säule auf dem Hauptplatz

Wappen-Engel auf einer Säule auf dem Hauptplatz

 

Reiseinformationen

Informationen:

Städtische Tourist-Info Vilnius: www.vilnius-tourism.lt

Anreise:

Direkte Flüge mit airBaltic (www.airBaltic.de) ab Wien, Zürich, München, Düsseldorf, Hamburg und Berlin (Tegel) nach Vilnius, sowie Fährverbindungen nach Klaipeda (ehem. Memel), nach Ventspils/Lettland, nach Tallinn sowie nach Riga.

Skulpturenpark in der (angeblichen) Mitte Europas: www.europosparkas.lt

Fahrradvermietung und organisierte Radtouren in Vilnius, Litauen, Lettland und Estland: www.bicycle.lt

Jüdisches Museum: www.jmuseum.lt

 

Website des Autors: https://ecomedia.info

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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