Bella Italia in der Schweiz

Das Tessin per Rad erfahren

Text und Fotos: Judith Weibrecht

Schweiz - Tessin - Lago Maggiore

Das Tessin ist der südlichste Kanton der Schweiz, der wie ein Stachel bis nach Italien hineinreicht. Man spricht Italienisch im Ticino und gibt sich wie eine Verbindung aus Schweizer Gründlichkeit und italienischer Leidenschaft. Eine fantastische Mischung. Bei Radfahrern ist die Region außerordentlich beliebt. Kein Wunder, gibt es doch 737 km gut ausgebaute und beschilderte Radwege und 1.000 km MTB-Strecken. Hineinradeln ins Ticino können Radwanderer auf der Nord-Süd-Route, der Nationalen Veloroute Nr. 3, ab Basel.

Der Alles-Kanton

Schweiz - Tessin - Airolo

Airolo

Airolo (1) ist ein hervorragender Startort, denn hier kann man gut Verpflegung aufstocken: In der Gotthard-Schaukäserei, der Caseifico San Gottardo, lassen sich die Käser bei der Arbeit zusehen, oder man legt gleich selbst mit Hand an. Und natürlich verschwinden ein paar Gramm Gottardo- und Tremola-Käse in den Packtaschen. Brot oder hausgemachten Panettone dazu, einen Kuchen mit getrockneten Früchten, gibt es schräg gegenüber vom Bahnhof in „La Butea du pan“ in der Viale Stazione. Auf 1.175 m geht es nun los, die Beschilderung der Nationalen Veloroute 3 weist erst mal abwärts: Das Logo zeigt ein weißes Fahrrad auf rotem Grund, daneben eine weiße Drei und das Schweizer Bundeskreuz hellblau unterlegt.

Dem mächtigen Schnee bedeckten Gipfel des mystischen Gotthardpasses kehre ich nun den Rücken zu, vor mir in der Ferne locken raschelnde Palmen, subtropische Vegetation und spiegelnde Seen. Alles da im Tessin. Das ist la dolce vita auf dem postgelben Mietvelo. Am schimmernden Fluss Ticino, Namensgeber des Kantons, rollt man durch die Levantina zunächst nach Faido (2), wo alte Holzhäuser mit Schnitzereien aus der Renaissancezeit zu finden sind. Neben alter Architektur gibt es aber auch hochmoderne. So holt sicher jeden das spektakuläre doppelte Biaschina-Viadukt aus dem Sattel, eine imposante Brücke, die die gleichnamige Schlucht überspannt.

Schweiz - Tessin - Holzhäuser aus der Renaissancezeit in Faido

Holzhäuser aus der Renaissancezeit in Faido

Grottige Pausen

Radpausen macht man im Ticino in Grotti. Der Name Grotto ist dabei meist wörtlich zu nehmen, denn oft liegen sie am Eingang eines Gewölbes und sind mit Granittischen und -bänken ausgestattet. Das „Grotto dei Pescatori“ liegt direkt an Fluss und Radweg und lockt weithin sichtbar mit einem Fahrrad auf dem Dach. Heute leider geschlossen. Fa niente, macht nix, das nächste Grotto liegt nur ein paar Rollmeter weiter. Bei Frau Fiorella im „Grotto Pergola“ in Giornico (3) fühle ich mich wohl. Bedächtig schlägt sie den Milchschaum für den Capuccino, nimmt ihn ganz langsam mit einem Esslöffel auf und verteilt ihn auf dem Kaffee. Ein paar Kakaostreusel kommen dazu und ganz obenauf gibt sie noch einen Klecks Milchschaum. Nun ist sie zufrieden, und ich trinke den besten Capuccio des Tessins, wenn nicht der Schweiz. Warm ist’s mir nun um Herz und Magen. „Wohin fährst du heute?“, will sie wissen. Von Airolo nach Bellinzona. „Brava!“, tüchtig, entfährt es ihr. Doch ich erkläre mit Händen und Füßen, dass es meist abwärts geht. Trotzdem brava, meint sie, und winkt zum Abschied.

Schweiz - Tessin - Die romanische Kirche San Nicoloa in Giornico

Die romanische Kirche San Nicoloa in Giornico

Eine Weile bleibe ich noch im hübschen Giornico mit seinen zwei romanischen Steinbogenbrücken, und der granitenen Kirche San Nicolao, die inmitten eines Weinbergs liegt. Sie ist das Glanzstück romanischer Bauwerke im Tessin und an der Außenwand mit eindrücklichen Tierfiguren verziert. Im Inneren des Baus aus dem 12. Jahrhundert sind spätgotische Fresken von Nicolao da Seregno zu bestaunen. „Que bello!“, wie schön, möchte man rufen.

Schweiz - Tessin - Die Burg Castelgrande in Bellinzona

Die Burg Castelgrande in Bellinzona

Das Grotto all’ Ambra lasse ich dann links liegen, wer könnte Signora Fiorella schon toppen, und rolle weiter nach Bellinzona (4). Bellinzona, Hauptstadt des Kantons Tessin, wird auch die italienischste Stadt der Schweiz genannt. Aufgrund ihrer Geschichte als Wächterin über drei bedeutende Handelsrouten kann sie mit ganzen drei Burgen und unzähligen Türmen protzen. La Turrita, die Turmreiche, wird sie deshalb genannt, und ihre mittelalterliche Befestigungsbaukunst zählt zum Unesco Welterbe. Das modern renovierte Castelgrande ist ein Muss. Und wer schon zu viele Bergetappen in den Radlerbeinen hat, nimmt einfach den Lift hinauf ab Piazza del Sole. Castelgrande und sein weißer und schwarzer Turm, Mauern und Zinnen wurden 1250-1500 errichtet, doch gab es viele An-, Umbauten und Abbrüche im Laufe der Geschichte. Der Tessiner Aurelio Galfetti baute schließlich moderne Elemente ein. Von hier aus fällt der Blick über die ganze Stadt, über Hügel und Berge und auf die Piazza Collegiata mit der Kirche SS. Pietro e Stefano und ihrer prachtvollen Marmorfassade.

Schweiz - Tessin - Blick vom Castelgrande aus auf Bellinzona

Blick vom Castelgrande aus auf Bellinzona

Der Lago Maggiore reichte einmal fast bis hierher, als die Magadino-Ebene noch nicht durch Schwemmmaterial aufgefüllt war. Dorthin fahre ich nun. Entlang der rechten Seite des Piano di Magadino geht es bretteben durch den Gemüsegarten des Tessins. Links und rechts sind gebückte Bauern auf den Feldern zugange. Der „Percorso Piano di Magadino“ ist eine der 30 relativ neuen lokalen Routen von Veloland Schweiz und führt fast vollständig geteert durch geschützte Feuchtgebiete, die Bolle di Magadino, nach Locarno. Dieses naturnahe Flussdelta der Flüsse Ticino und Verzasca mit seinen Wasserpflanzen und zahlreichen Vogelarten steht unter Naturschutz. Hinter den weiß überzuckerten Gipfeln schimmert ein blau-rosafarbenes Licht, das bis ins Tal flutet. Unten entfaltet sich die volle Blütenpracht.

Dem Himmel so nah

Schweiz - Tessin - Blicke von Lugano aus: Oben auf den Bergen Schnee, unten am See Blütenpracht

Blicke von Lugano aus: Oben auf den Bergen Schnee, unten am See Blütenpracht

Das ist auch in Locarno (5) so. Die Stadt mit dem mildesten Klima der Schweiz präsentiert sich von ihrer blütenreichen Seite: Aus China und Japan stammende Kamelien säumen die Uferpromenade. Ende März findet ein Kamelienfest statt, und sogar die Schweizer Kameliengesellschaft hat ihren Sitz in Locarno. Man weiß sowieso nicht so recht, wo man ist. Das Ohr hört italienisch, die Vegetation ist mediterran (Oleander, Myrte), subtropisch (Magnolien) oder gar australisch (Eukalyptus). Auf der Piazza Grande ist dann der Sprachenwirrwarr perfekt: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch. Und über all dem flattert das Schweizer Bundeskreuz. Noch internationaler wird es im August, wenn auf der größten Piazza des Tessins das Filmfestival stattfindet mit Openair-Abendvorstellungen und bis zu 8.000 Zuschauern. Im Moment wird dort der Wochenmarkt abgehalten mit so bodenständigen Dingen wie Polenta, Maisgrießbrei, die in einer Rührmaschine bewundert werden kann. Polenta mit Rindfleisch sei eine lokale Passion, wird mir versichert.

Schweiz - Tessin - Markt auf der Piazza Grande in Locarno

Markt auf der Piazza Grande in Locarno

Das E-Bike-Projekt Locarno macht die Sache nun einfach. Mit einem Flyer C-5 Premium geht es ab der Touristinformation am Largo Zorzi locker in die Berge des Centovalli (zu Deutsch hundert Täler) oder ins Maggiatal. Das Vale Maggia ist eines der längsten Tessiner Täler und hat verschiedenste Landschaftsformen. Von lieblichen unten auf Seehöhe bis zu gebirgigen oben auf 3.000 Metern findet sich dort alles auf kleinstem Raum. Doch so hoch strampele ich heute selbst mit Elektromotor nicht. Auf der Regionalen Route Nr. 31 von Locarno bis Cavergno überwindet man nur 257 Höhenmeter und streift Wasserfälle, natürliche Badewannen und Pools. Sie alle hat die Maggia in den Stein gefräst. Besonders schöne sind unter der Brücke von Aurigeno zu sehen. Der ruhige Ort Maggia (6) liegt auf 332 m inmitten von Weinbergen. Touristischer geht es in den Dörfern Cavergno (7) und Cevio (8) mit dem Museum des Maggiatals zu. Hier kann man alles über „Mensch und Natur in einem südalpinen Tal“ erfahren, wie der Name der Ausstellung verspricht. Hart und karg muss das Leben einst gewesen sein, sodass viele auswanderten. Heute wandern viele per Rad oder zu Fuß durch das Tal. Die Wasserflasche kann man dabei an jedem Brunnen am Wegesrand auffüllen. Und wer das nicht will, findet bestimmt ein Grotto.

Unten an den glitzernden Wellen des Lago Maggiore sind das Blau des Sees und des Himmels fast eins. Mit dem E-Bike geht’s flott die Seepromenade entlang. Traumhaft. "Lass uns träumen am Lago Maggiore, wo das Glück deine Wünsche erfüllt." Wenn sich bei meiner Patentante der Plattenteller drehte, dann lag meist ihre Lieblingsscheibe von Rudi Schuricke darauf. Der Tango verklärte die mediterrane Lebensart und beschwor den Zauber des Sees.

Die Schweizer Sonnenstube

Schweiz - Tessin - Mit dem E-Bike (Typ Flyer C-5 Premium) in die Berge

Mit dem E-Bike (Typ Flyer C-5 Premium) in die Berge

Am Bahnhof Lugano lassen sich ebenfalls Flyer-Bikes mieten, die den Aufstieg auf den Monte Brè (9) um so vieles einfacher machen. Die Ausblicke auf Luganer See und Alpen sind von dort aus phänomenal. Auch den Monte San Salvatore, der wirkt wie Rios Zuckerhut, hat man im Blick. Oben auf dem Monte Brè gibt es MTB-Strecken satt. Unten an der spiegelnden Fläche des Sees treffen kurzbehoste Sonnensucher ein. Dort will ich signalgelbes Eis aus der Waffel schlecken, lässig aus dem Ständer eine Postkarte ziehen, die den See genauso quietschblau abbildet, wie er auch ist, den Fahrradhelm mit dem Strohhut vertauschen und unter Palmen flanieren. Magnolienduft liegt in der Luft. Ciao, Ticino bello!

Schweiz - Tessin - Auffahrt ab Lugano auf den Monte Brè, Ausblicke auf den Lago di Lugano/Luganer See und den Monte S. Salvatore

Auffahrt ab Lugano auf den Monte Brè, Ausblicke auf den Lago di Lugano/Luganer See und den Monte S. Salvatore

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

Kurzportrait Schweiz

Die Schweiz? Kennt doch jeder, oder? Wilhelm Tell, Banken, Schokolade, Löcherkäse. Wer so denkt, ist aber höchstens mal durchgefahren, auf dem Weg nach Italien oder Frankreich. Man braucht schon etwas Zeit, um sich über das Klischee hinwegzusetzen.

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Entspannte Pointenhatz auf dem Appenzeller Witzweg

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Jugendherbergen in der Schweiz

Vor gut dreißig Jahren war die preisgünstige Übernachtungsalternative in Vergessenheit geraten. Doch die Anhänger der alten Idee, die dem deutschen Lehrer Richard Schirrmann 1909 auf einer Schülerwanderfahrt gekommen war und sich unter dem Motto "Gemeinschaft erleben" weltweit verbreitete, besaßen einen starken Erneuerungswillen. In der Eidgenossenschaft, wo sich der Verbund 1924 gründete, reagierten sie mit einer tiefenwirksamen Sanierungsoffensive. Unrentable Häuser wurden geschlossen, andere gründlich aufgepeppt. In den letzten zehn Jahren investierte der Verein Schweizer Jugendherbergen 80 Millionen Franken in Um- und Neubauten.

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