Einmal „Top of Europe“ und zurück

Vom autofreien Wengen hinauf aufs Jungfraujoch

Text und Fotos: Judith Weibrecht

Nach Wengen im Berner Oberland führt keine Straße. Doch das heiß nicht, dass dort nichts los wäre: Die Skigebiete unterhalb der Eiger Nordwand gehören zu den besten der Schweiz. Zum Klassiker aller Skirennen am Lauberhorn kommen Zehntausende Besucher, und die Bahn hinauf aufs Jungfraujoch transportiert Jahr für Jahr eine halbe Million Menschen aus aller Welt. Einmal im Leben wollen sie auf dem „Top of Europe“ stehen und den längsten Gletscher der Alpen bewundern.

Schweiz / Wengen / Aletsch Gletscher

Blick vom Jungfraujoch auf den Aletsch Gletscher

„Grüezi!“, grüezt der Schaffner in seiner blau-lila-grünen Anorakuniform, sagt „Mäerci!“ beim Abzwicken der Fahrkarten, und wir schieben ab. Die uralten Schienen der Bahn quietschen und pfeifen ein surrealistisches Lied, rechts staubt der Schnee, links stieben ein paar Krähen erschreckt auf, und wir schuckeln auf Holzbänken hin und her, her und hin.

Schweiz / Wengen / Wengernalpbahn

Wengernalpbahn

Hinauf geht´s! Von 796 Meter in Lauterbrunnen auf 1247 Meter in Wengen! Seit 1893 tut die historische Wengernalpbahn ihren Dienst auf einer Spurweite von achtzig Zentimetern, sie ist die längste durchgehende Zahnradbahn der Schweiz. Auch die Güterversorgung Wengens funktioniert auf diesem Weg. Mit uns fahren vielleicht ein paar Liter Milch, ein guter Tropfen Fendant, Käse und Schokolade?

Superlative um Eiger, Mönch und Jungfrau

Das Auto, falls man überhaupt damit anreist, lässt sich in Interlaken oder Lauterbrunnen abstellen. Dies hier ist Bahnland! Und Skiland und Schlittenland und Wanderland, denn Wengen ist quasi autofrei. Ruhig und ohne Straßenanschluss. Nur ein paar Kleinstwagen der Einheimischen verkehren hin und wieder, um vom Bahnhof aus den Nachschub für die Hotels heranzuschaffen.

Schweiz / Wengen / Bahn

Bahn an der Kleinen Scheidegg

Nein, Heidi und der Alp-Öhi wohnen hier nicht, in diesem schneebestäubten malerischen Bergdorf mit urigen Chalets und Hotels der Jahrhundertwende. Oder nicht mehr? Dafür aber Ayako Okano aus Japan, James Miller aus England sowie Herr und Frau Singh aus Indien.

Schweiz / Blick auf Wengen

Blick auf Wengen

Die Anzahl der indischen Touristen sei eindeutig steigend, wird mir berichtet. Doch die Schönheit der Berge ernährt schließlich die Menschen: Gut zweitausend Gästebetten gibt es in Wengen am Fuße des alpinen Dreigestirns Eiger, Mönch und Jungfrau, einem Gebiet, in dem die Superlative nur so aufeinander prallen: Das halsbrecherische Lauberhornrennen, das übrigens 1930 zum ersten Mal über die Bühne ging, ist im Skisport geradezu legendär. Und für Bergsteiger ein Mythos ist die Eiger Nordwand. Schon ewig dort, aber erst im Jahr 2001 von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt, ist der Aletsch Gletscher, der sich vom Jungfraujoch aus vierundzwanzig Kilometer ins Tal wälzt. Der längste Gletscher der Alpen.

Bergbahnfieber in eisiger Höhe

Darf´s noch ein bisschen mehr sein? Von Wengen aus geht es zunächst mit der Wengernalpbahn über eine Spitzkehre hinauf bis zur Kleinen Scheidegg, einer Art Basislager der Skifahrer, wo ein kleines Tipi steht, in dem junge, gestylte Snowboarder Glühwein in sich hineinschütten. Von dort fährt man weiter mit der Jungfraubahn, schlichtweg dem Pionierwerk aller alpinen Bergbahnen. Bei fünfundzwanzig Prozent Höchststeigung geht es sieben Kilometer durch einen Tunnel in der Eigerwand und den Mönch hindurch, hinauf auf Europas höchsten Schienenbahnhof: 3454 Meter hoch liegt der „Top of Europe“ auf dem Jungfraujoch. Mitten im Tunnel gibt es an zwei Stationen Halt: an der Eigerwand und am Eismeer wird einem durch große Panoramafenster der Blick in eisiges Blau und Weiß erlaubt, ohne dass man dazu hinaus in die Kälte muss.

Schweiz / Bergwelt in Blau und Weiß

Bergwelt oberhalb Wengen

Das Bergbahnfieber in der Jungfrauregion war Ende des 19. Jahrhunderts ausgebrochen. Sechzehn Jahre lang wurde an der Jungfraubahn gebaut, fünfzehn Millionen Franken hat sie verschlungen, und an die dreihundert Leute wohnten damals am Nordrand des Eigergletschers in einer Siedlung aus Baracken und Häusern. Für sie mussten schon im Herbst jede Menge Vorräte herangeschafft werden, unter anderem zwölf Tonnen Mehl und fünfzehn Hektoliter Wein, was pro Tag und Arbeiter einen Liter bedeutete.

Fujiyama im Berner Oberland?

Oben überrascht ein grandioses Panorama mit herausragenden Gipfeln im Herzen des Berner Oberlandes: von der Aussichtsterrasse am Sphinx-Observatorium oder von einem Plateau aus, über das ein eisiger Wind hinwegzieht. Ein weiter Blick auf milchiges Weiß, den Aletsch Gletscher, spitze Gipfel, scharfe Grate, Eisblau, Schneekristalle und das Azurblau des Himmels. Hinabstürzen? Warum denn nicht. Es ist eine Schönheit, die kaum auszuhalten ist!

Schweiz / Observatorium

Schweiz / Blick über die Gipfel

Doch die Japaner müssen schnell weiter, um noch durch den bläulichen Tunnel in den Eispalast mit seinen Eisskulpturen zu eilen. Dabei könnten sie sich auch noch eine Weile in der „Fujiyama - Sushi Bar“ vergnügen. Inder lagern auf den Sitzgruppen vor dem Kiosk und essen Reis mit Gemüse. Doch hier oben gäbe es auch das „Bollywood - Indian Restaurant“. Am Schweizer Kiosk schließlich gibt es „hausgemachte Schokolade“. Durch die Scheibe blendet die Wintersonne, Nase und Wangen tauen langsam wieder auf.

Schweiz / Blick auf Gletscher

Blick vom Top of Europe

“Best Glühwein in town“

Drunten auf Wengens Hauptstraße flanieren die Schönen und die Skifreaks, stellen Pelze oder Skimoden zur Schau. Im Wengener Kinderpark üben die Kleinen erste Steh- oder Gehversuche auf Skiern. Auf der Eisbahn wird Eishockey gespielt. Die Hauptstraße entlang gibt es alles, was das Touristenherz in der Schweiz begehren mag: Uhren, Schweizer natürlich, rote T-Shirts mit weißem Bundeskreuz, „best Glühwein in town“ und weiter oben das „Chäs Hüetti“. Irgendwo hängt das Nationale Lawinenbulletin aus: auf der Höhe erhebliche Lawinengefahr! Hier aber flaniert man. Tausend Leute sind unterwegs, doch Ruhe, Erholung und Gemütlichkeit sind garantiert. Wengen autofrei!

Schweiz / Wengen / Kinderskipark

Kinder-Skipark in Wengen

Informationen:

Schweiz Tourismus, Info-Telefon: 00800 100 200 31 (kostenfrei), Internet: www.myswitzerland.com

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

Kurzportrait Schweiz

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Entspannte Pointenhatz auf dem Appenzeller Witzweg

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Appenzeller Witzweg

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Jugendherbergen in der Schweiz

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