Ukraine im Überblick

Man hat hierzulande nur vage Vorstellungen von dem großen, fernen Land im Süden Osteuropas. Wer ist je in Kiew gewesen, kennt Odessa oder Lemberg, ist in den ukrainischen Karpaten gewandert oder auf dem majestätischen Dnjepr gefahren, den die Einheimischen Dnipro nennen? Die verbreitete Unkenntnis über die Ukraine wich allgemeinem Interesse, als im Herbst 2013 der „Majdan“ in Kiew und die Halbinsel Krim und bald darauf ein paar verrußte Industriestädte im Osten des Landes von sich reden machten. Die Welt schaute besorgt auf die beunruhigenden Vorgänge am Rande Europas.

Burg Pernstejn

Lviv
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Ein Besuch dort ist noch immer eine Fahrt ins Unbekannte und das im doppelten Sinn – in noch nie gesehene Städte und Landschaften, aber auch in längst vergessene oder niemals erlebte, hier aber alltägliche Unzulänglichkeiten. Zeit, Geduld und Improvisationstalent sind auf alle Fälle gefragt und wer es versteht, so manche Beschwerlichkeiten als Begleiterscheinungen einer Übergangszeit einzuordnen, wird dieses gastfreundliche Land mit Gewinn bereisen.

Beginnen wir unsere Erkundung gleich jenseits der polnischen Grenze in einem Gebiet, das je nach Blickwinkel einst „Osten des Westens“ oder „Westen des Ostens“ genannt wurde: in Galizien. Bis 1918 war diese historische Landschaft Kronland der habsburgischen k.u.k. Donaumonarchie gewesen. In der Zwischenkriegszeit Teil Polens, wurde 1939 ihr östlicher Teil an die sowjetische Ukraine angeschlossen. Lemberg, die in so vielen wehmütigen Erzählungen besungene Vielvölkerstadt des alten Galiziens, ist nun Gebietshauptstadt des ukrainischen Teils. Noch in unseren Tagen wird bei einem Gang durch die alten Viertel etwas von dem unnachahmlichen kulturellen Flair dieser Stadt lebendig, als hier Deutsche und Polen, Österreicher und Armenier, Juden und Ukrainer zusammenlebten. Einem Freilichtmuseum gleich, präsentiert Lviv, wie die Ukrainer ihre Stadt nennen (im Russischen heißt sie Lwow), ihre zahlreichen Baudenkmäler, darunter die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Altstadt mit ihren Kirchen und Bürgerhäusern aus dem 13. und 14. Jahrhundert, dem jüdischen und dem armenischen Viertel. Von dem friedlichen Austausch der Kulturen zeugen die Lateinische und die Armenische Kathedrale oder das orthodoxe Onufri-Kloster und die Lytschakiwske Nekropole, einer der ältesten Friedhöfe Europas, wo im Tode vereint die Prominenten und die Namenlosen vieler Nationalitäten ruhen.

Burg Pernstejn

Winter in den Karpaten © lilu2005 - Fotolia.com

„Nach Czernowitz treibt es nur Lyriktouristen“, schrieb kürzlich jemand, der Cernivci (ukrain.) im Vorland der Waldkarpaten besuchte. Holprige Straßen führen in diesen ärmsten Winkel Europas, in die historische Landschaft Nördliche Bukowina. Und auch die Stadt, Zentrum der deutsch-jüdischen Lyrik der Zwischenkriegszeit, ist heruntergekommen. So folgt man den verblassenden Spuren von Paul Celan und Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Moses Rosenkranz und den vielen anderen, die unter Ukrainern, Armeniern, Bukowina-Deutschen, Rumänen, Polen das tolerante Klima dieser Stadt genossen.

Burg Pernstejn

Sophienkathedrale in Kiev
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Weit östlich der ukrainischen Karpaten und der Wolhynischen Höhen, im Tiefland des Dnjepr liegt Kiew, die „Wiege der slavischen Reiche“. Im 9. Jahrhundert entstand an den Ufern des Dnjepr die „Kiewer Rus“ als Keimzelle des ersten russischen Reiches. Hier nahm die Christianisierung des russischen Raums ihren Ausgang. 1240 ging Kiew im Mongolensturm unter, war im 17. Jahrhundert Hauptstadt des Kosakenstaates, geriet später unter die russische Fuchtel und litt erbärmlich unter der Gewalt des 2. Weltkriegs. Nach 1945 legten sowjetische Architekten großzügige neue Wohnviertel, Grünanlagen und Parks an. Seit 1991 ist die Millionenmetropole Hauptstadt der neuen Ukraine. Noch heute sind beeindruckende Zeugen ihrer frühchristlichen Blütezeit erhalten, allen voran das Höhlenkloster von Petschersk, wo um das Jahr 1050 Einsiedlermönche in den Steilhang des Dnjepr Höhlen gruben und den Ort nach und nach zu einem Klosterkomplex mit zahllosen unter- und oberirdischen Kirchen erweiterten. Die Anlagen dieses geistig-kulturellen Zentrums des frühen Russischen Reiches zählen heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Auch die Sophien-Kathedrale aus dem 13./17. Jahrhundert mit üppigem Fresken- und Mosaikschmuck wurde auf die UNESCO-Liste gesetzt. Ein Bummel durch die Oberstadt, wo Kiews Aristokratie heimisch war, und durch die Unterstadt Podil, jahrhundertelang Quartier der Tagelöhner, Kleinhändler und Hafenarbeiter, lässt andere Facetten der ukrainischen Metropole lebendig werden. Entlang überreich dekorierter Gründerzeitfassaden, Zeugen des großen Baubooms um 1900, führen fast alle Wege zur Kreschtschatik, der prachtvollen Flaniermeile im Zentrum. Unübersehbar stalinistischen Ursprungs, wirkt sie dennoch „zivil“, fast beschwingt, verströmt geradezu südländisches Flair.

Kiew ist Ausgangspunkt für die beliebten Flusskreuzfahrten auf dem mächtigen Dnjepr. Für das geruhsame Reisen zu Wasser kommen komfortable, in Deutschland gebaute Schiffe zum Einsatz. Unterwegs wird pausiert, wenn das Siedlungsgebiet der Kosaken erreicht wird, wenn der Besuch von Städten und Folklore-Veranstaltungen auf dem Programm stehen. Am 5. Tag durchpflügt das Schiff das weite Dnjepr-Delta, folgt der Schwarzmeerküste und erreicht am nächsten Tag Odessa.

Die Stadt ist jung. 1994 feierte sie ihren zweihundertsten Geburtstag. Und doch ist sie prall gefüllt mit Geschichte. Atemberaubend ihr Aufstieg. 1914 zählte sie 630.000 Einwohner (im Dezember 2014 1.017.000). Sie war eine Vielvölkerstadt, wie es sie kein zweites Mal im damaligen Europa gab. Ihre Anziehungskraft auf Unternehmungslustige war legendär und sie war die letzte Rettung für entlaufene Leibeigene, Zufluchtsort für Tagelöhner, Kosaken und Grenzbauern. Sie wurde zu einem Zentrum der osteuropäischen Juden. Odessa war eine Stadt der Schriftsteller und Musiker, der Fabrikanten und Händler. Der historische Kern der Stadt blieb fast unverändert. Es dominieren Bauten des Klassizismus und Empire. Repräsentativ sind Börse und Gouverneurspalast, die granitgepflasterten Straßen. Atemberaubend die Adelspaläste an der Puschkinstraße und hinreißend das nach dem Wiener Vorbild gebaute Opernhaus, das zu den schönsten der Welt zählt. Unverändert kreisen alle Bilder von Odessa um die große Treppe mit ihren 192 Stufen und zehn Absätzen - als architektonisches Meisterwerk, Aussichtspunkt und Verbindung zwischen Stadt und Hafen und als Schauplatz der grandiosen Szene in Sergej Eisensteins Film „Panzerkreuzer Potemkin“.

Von Odessas Hafen stachen bis 2013 die Kreuzfahrtschiffe in See, um Sewastopol auf der Krim anzulaufen.



Eckart Fiene




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