Calw und Hermann Hesse
Eine nicht ganz einfache Geschichte
Hermann Hesse, der meistgelesene deutsche Schriftsteller dieses Jahrhunderts, ist 1877 in Calw im Nagoldtal geboren worden; sein Geburtshaus (Gedenktafel) befindet sich gegenüber dem Rathaus am Marktplatz. Er hat dort bis 1881 gelebt, dann 1886 bis 1890 wieder, nur noch gelegentlich 1890 bis 1893, wieder 1894 bis 1895 und kam bis 1905 noch manchmal zu Besuchen ins Elternhaus, aber ab letzterem Jahr nur noch selten. Jedenfalls war es oft genug, um den Status eines großen Sohnes der Stadt zu erwerben, der "hie und da eine Nacht Heimweh nach Calw" gestand.
Auf
Umwegen zur Hesse-Stadt
Calw ist auf Umwegen d i e Hesse-Stadt geworden, was hier zu beschreiben wäre. Seit 1964
wird dort ein Hermann Hesse-Preis verliehen. Es gibt seit 1990, aufgebaut vom
Schiller-Nationalmuseum von Marbach am Neckar, eine vorzüglich gestaltete
Hesse-Ausstellung im historischen Haus Schüz am Marktplatz. Man hat Gedenktafeln
angebracht, das Gymnasium trägt den Namen des Schriftstellers und für dessen
Schülerinnen und Schüler wurde ein weiterer Hesse-Preis ausgeschrieben. Man hat allerlei
Hesse-Memorabilia angekauft und früher im Fremdenverkehrs-Prospekt den Literaten auch mal
abgebildet, auf einem Schwarz-Weiß-Photo, die Bauernbratwürste und der Schinken daneben
verdienten sich eine bunte Abbildung.
Lieblingsplatz
auf der Brücke
Machen wir also unseren Weg durch Calw und zu Hermann Hesse, zuallererst an seinen
Lieblingsplatz: Der war die alte Nagoldbrücke aus rotem Buntsandstein, auf der die
zierliche Nikolauskapelle steht. "Das ist mir der liebste Platz im Städtchen",
schrieb Hesse, "der Domplatz von Florenz ist mir nichts dagegen." Es ist die
Brücke, "über die ich als Knabe tausendmal meine Angelschnur hinabhängen
hatte."
Ein
Tunichtgut mit Geige
Tatsächlich, so ist er einst da gestanden auf der sog. Nikolausbrücke, hat auf den Fluß
und in den Fluß geguckt. Alte Leute haben das beobachtet und später den Fernsehreportern
vom Südwestfunk aus Baden-Baden berichtet: "Der junge Hesse tat nicht viel
tagsüber; er fischte von der Brücke in die Nagold stundenlang, dichtete, sinnierte,
spielte Geige oder trieb Allotria nach Strich und Faden." Er galt als Tunichtgut.
"Er hat nichts schaffen wollen." - "Der hat nirgends gut getan." Das
alles tut man nicht in Calw, denn Calw ist in Schwaben und dort wird
"geschafft".
Übler
Ruf wegen Heinrich Heine
Am Ende der Brücke, linker Hand, sehen wir die Buchhandlung. Dort gibts
Hesse-Bücher und -Bildpostkarten. Der Schriftsteller hatte seine eigenen Erfahrungen mit
den Calwer Buchhandlungen gemacht: "Der alte Herr (Anm. gemeint war der Buchhändler)
hat mich in einen üblen Ruf gebracht, weil ich Heines Werke bei ihm bestellte." Aber
die Zeiten änderten sich und 1930 schrieb Hesse ein Freund aus dem Schwarzwald-Städtchen
in den Tessin: "Deine Bücher sind jetzt in Calw in langer Reihe in der Buchhandlung
Häussler aufgestellt.
"Im
1.Weltkrieg in der Schweiz
Als der 1.Weltkrieg beginnt, lebt Hesse in der neutralen Schweiz, liegt nicht vor Verdun
und denkt an Calw: "Mir ist Calw in Gedanken immer Heimat geblieben. Das halte ich
alles im Gedächtnis heilig und lasse keinen Staub darauf kommen" (1915).
"Vaterlandsloser
Gesell"?
"Vaterlandsloser Gesell, der längst den Staub der heimischen Erde von seinen
Schuhen geschüttelt!", schimpft ihn eine Zeitung. Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, verteidigt seinen
schwäbischen Landsmann, der sich 1914 im deutschen Konsultat von Bern als
Kriegsfreiwilliger gemeldet hat, dort zurückgestellt und der Kriegsgefangenen-Betreuung
zugeteilt wurde. Die Jahre 1914 bis 1918 des 1.Weltkriegs aber gelten in der Rückschau
als "bestimmt mit ein Punkt für das gestörte Verhältnis der Calwer zu Hermann
Hesse", hat uns ein Gewährsmann gesagt, der aus dem Tal kommt und es in der
auswärtigen Politik zu allerlei Erfolgen gebracht hat.
Hermann Hesse ca. 1913/14 (c) Suhrkamp Verlag
"Jüdische
Kritik von gestern"
Es kommen wieder andere Jahre, 1933 bis 1945, 1939 bis 1945, die NS-Zeit und der
2.Weltkrieg. Hesse lehnt Faschismus wie Krieg ab, "oft bis zum tiefsten Ekel
degoutiert." Seine Bücher werden zwar nicht verbrannt, als er jedoch Kafka und Bloch
und Thomas Mann in einem Beitrag lobt, wird er im Deutschen Reich kritisiert: Er
übernehme "die volksverräterische Rolle der jüdischen Kritik von gestern."
Der
gewendete Brunnen
In jene Jahre fällt die Geschichte von den Brunnendrehern. Unser erwähnter Gewährsmann
- "wenn I mi als kloiner Bua recht entsinn" - hat erzählt, daß der im
Jahre 1920 aufgestellte Hesse-Brunnen damals gewendet wurde. So sah das Bildnis des
Schriftstellers nicht mehr zur Straße, sondern von ihr weg (der Brunnen steht heute an
anderem Ort: Gleich bei der Nikolausbrücke, natürlich auf dem Hermann-Hesse-Platz).
Ein
Abend über Hermann Hesse?
Es ist bemerkenswert, daß die lokale Zeitung die Ausgrenzung des Dichters nicht
nachvollzogen hat. 1916, als Hermann Hesse als "Feigling" diffamiert wurde,
fragte ein Kommentar im "Calwer Tagblatt" anläßlich eines Stuttgarter
Hesse-Abends: "Ob nicht auch in unserer Vaterstadt ein Abend am Platz wäre, an dem
man über seine Dichtungen reden würde?"
Mutige
"Schwarzwaldwacht"
1942, in der NS-Zeit, veröffentlicht das "Tagblatt", das nun den Namen
"Schwarzwaldwacht" trägt, zu Hesse Geburtstag Verse, "die uns dem Menschen
und Künstler nahe sein lassen." Dies geschieht, obwohl die Nazis angeordnet haben,
Hesses Geburtstag nur mit Distanz zu feiern: Er sei "kein Führer der Jugend"
und seine Arbeit "von einer Moderichtung bestimmt."
Fast
alle gegen Hesse, auch der Kommunist
1945, mit dem Ende der Nazizeit, besetzen die Franzosen Calw und der Kulturoffizier, den
sie mitgebracht haben, veranstaltet eine Feier zu Ehren des Autors. 1947 ernennt die Stadt
ihren "größten Sohn" zum Ehrenbürger. 1957 liegt dem Rat der Stadt der Antrag
vor, das Gymnasium nach Hesse zu benennen. Beraten wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit und so weiß auch unser
Gewährsmann nur Inoffizielles: Es fielen im Calwer Stadtrat in bezug auf Hesses Werk
"Narziß und Goldmund" Äußerungen wie "pornographischer
Schriftsteller", man erinnerte sich an den "faulen Schüler" und befand,
daß der kein Vorbild sei für die Calwer Jugend. Bis auf den Geistlichen, der den
Vorschlag zur Namensbenennung eingebracht hatte,waren alle dagegen - auch die örtlichen
Sozialdemokraten und der Calwer Kommunist. Das Lehrerkollegium sprach sich ebenfalls gegen
ein Hermann-Hesse-Gymnasium aus. Besonders peinlich: Die Zustimmung des Schriftstellers
zur Namensgebung hatte man bereits vor diesen Beschlüssen eingeholt."
Es
führt keine Straße mehr dorthin..."
Zum
letztenmal ist Hermann Hesse 1931 in Calw gewesen.
Warum danach nie wieder, lässt sich nachlesen: "Ich möchte und
werde es nicht wiedersehen. Die Kinderheimat ist zu Erinnerung und
Heimweh geworden; es führt keine Straße mehr dorthin.""Unser gutes Schilda", hat Hesse einmal seine Heimatstadt Calw genannt, und
auch dies geschrieben: "Hier ist mir das Tal zu eng."Und
das hat der Dichter nicht nur geographisch gemeint.
2002 beging Calw zum 125.Geburtstag des Schriftstellers ein „Hermann-Hesse-Jahr“ mit zahlreichen Veranstaltungen. Auf der Nikolausbrücke steht nun das lebensgroße Denkmal des Dichters – aufrecht, in die Nagold schaut er nicht...