Text und Fotos: Judith Weibrecht
In Ostbelgien soll das größte Bahntrassen- und Treidel-Wegenetz Europas entstehen. RAVeL-Routen heißen die umgebauten Wege, eine Abkürzung für Réseau Autonome de Voies Lentes, auf Deutsch: Unabhängiges Netz der langsamen Wege. Ab/bis Aachen lässt sich ein Rundkurs befahren.
Der Baudouin-Turm auf dem Dreiländerpunkt
Wo, bitte, geht’s hier nach Belgien? Ich will zum Verbindungsglied der RAVeL-Route, auf den Radweg RV401. Mit der Völkerverbindung scheint es nicht weit her zu sein, denn die Frau auf dem Bauernhof kurz vorm Dreiländerpunkt weiß es auch nicht. „Der Dreiländerpunkt ist jedenfalls dort!“, deutet ihr Mann Richtung Wald. „Stimmt das?“, frage ich noch einmal unsicher nach. „Ja, wenn der det sacht“, meint die Frau. Sie selbst sei noch nie dort gewesen. Dort, das ist nur einen knappen Kilometer weiter. Dort schauen alle von einem Turm aus über Grenzen, nach Deutschland, Belgien, in die Niederlande, über Laubbäume und welliges, grünes Land.
Blick vom Turm
Klostergeschichten
Der Verbindungsweg bleibt zunächst ein Mysterium, doch hat man bei Hombourg die Linie 38 gefunden, kann nichts mehr schief gehen. Die Gegend mag hügelig sein, doch bewegt man sich auf den Bahntrassenwegen nie mit mehr als drei Prozent Steigung. Angenehmes Radeln also. Auf diesem Weg geht es auf Aschebelag fast kerzengeradeaus. Abbiegen erlaubt! Ich wähle einen Abstecher zum Besuch der Abtei von Val-Dieu (1) mit ihrer Brauerei. Joseph Jacob wartet schon im ehemaligen Kloster und führt mich herum. „Die Abtei wurde 1216 gegründet und ist ein Juwel der Zisterzienserarchitektur“, erzählt er. Die Originalkirche sehen wir hier nicht mehr, eine Kirche wurde durch Feuer zerstört, eine andere während der Französischen Revolution beschädigt, wie ihr überhaupt die Wechselfälle der Geschichte immer wieder zusetzten. Kreuzgang und Kapitelsaal aus dem 13. Jahrhundert sind daher romanisch, die Kirche gotisch, der erste Stock des Klosters aus dem 18., der zweite aus dem 20. Jahrhundert. Im ehemaligen Refektorium hängen Gemälde der einstigen Äbte an den Wänden. „Alle Äbte wurden irgendwann einmal gemalt. Nachträglich. Da waren sie alle schon tot, und irgendwie sehen sie ja auch alle gleich aus“, schmunzelt Joseph. „Da hat wohl für alle Porträts der gleiche Mönch Modell gesessen, denn die Nase ist immer nach links gebogen.“
Abtei von Val-Dieu
Ich biege nach links ab und zurück auf die RAVeL-Route mitten im fruchtbaren Herver Land, das stolz ist auf seine Erzeugnisse. Im ehemaligen Bahnhof von Herve (2) und direkt am Weg befindet sich heute das Haus des Tourismus. Im „Raum der Köstlichkeiten“ erfährt man von der Filmfigur Jean de Herve alles über die lokalen Berühmtheiten und kulinarischen Spezialitäten der Region in einer Multimediashow. Jean „erzählt“ vom berühmten Herver Käse mit seiner rosafarbenen Kruste und seiner einmaligen Textur, von den Bieren, z. B. dem aus Val-Dieu, von Cidre, Apfel- und Birnensirup und von der Butter aus Aubel. Anschließend eine Verkostung darf natürlich nicht fehlen. Gästeführerin Anne Sophie Dessouraux weiß: „Den Apfelsirup auf den Käse geben, so schmeckt’s am besten!“ Stimmt.
Weg von den Kostbarkeiten des Landlebens, rein in die Stadt. Nun führt die ehemalige Bahntrasse Richtung Lüttich und man teilt sich den Weg mehr und mehr mit Joggern, Reitern und Spaziergängern. Für alle diese sind die RAVeL-Routen zugänglich. Kurz vor Liège (3), wie die drittgrößte Stadt Belgiens auf Französisch heißt, wird es schwierig, den Verbindungsweg in die Stadt zu finden. Er ist gerade im Bau wie viele weitere, die in den nächsten Jahren noch entstehen oder fertig gestellt werden sollen. Lüttich, das ist Liebe auf den zweiten Blick. Der erste zeigt Blockbauten, Industrieanlagen und Hochhäuser an der Maas.
Blick auf Liège
Doch schon lande ich auf dem quirligen Sonntagsmarkt „La Batte“ zwischen Anbietern von bunten Strumpfhosen und Schnickschnack, Lütticher Waffeln, ganzen oder halben Hähnchen und Bergen von Gemüse. In den Gassen der Altstadt finden sich in alten Fachwerkhäuschen zahlreiche charmante Bistros und Kneipen, Brasserien und Pattiserien. Im „Bistro d’en Face“ reicht man als Aperitif den berühmten Maitrank, trockenen Weißwein mit Waldmeister, Zucker und einem Spritzer Cognac, bevor man sich dem formidablen Mahl widmet: Am besten den Boulets Liégois, Fleischklößen Lütticher Art. Genever probiert man im „Maison du Pékèt“, wie er auf Wallonisch heißt. Oder man schnabuliert einfach ein paar Pommes bei einer „Friterie“.
Hausfassade in Liège
Um die Ecke liegt das sehenswerte „Museum des wallonischen Lebens“, das hilft, das Wallonische, die Wallonie und ihre Geschichte besser zu verstehen. Einst war das „kleine Frankreich an der Maas“, wie der französische Historiker Jules Michele es nannte, von Stahl- und Kohleindustrie geprägt, heute findet man alte neben neuen Fassaden, und die Stadt möchte sich als Design-Metropole profilieren. Gelungen ist dies auf atemberaubende Weise mit dem futuristisch anmutenden Bahnhof Liège-Guillemins, konzipiert vom spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava. Wie eine weiße Welle legt sich das Gebäude scheinbar über Züge, Gleise und Bahnsteige.
Futuristisch anmutender Bahnhof Liège-Guillemins
Die sanft gluckernden Wellen der Ourthe sollen Ravelisten auf dem Weg nach Süden begleiten. Der RV7 führt weg von der Tochter der Maas und entlang der Schleifen und Windungen des Flüsschens weiter. Anfangs ist das leider wenig idyllisch zwischen Eisenbahnlinie rechts und Autobahn links, deren Motorengeräusche deutlich herüberdringen, doch das ändert sich nach ein paar Kilometern. Zu Beginn ist die Route asphaltiert, später erdig oder man rattert auf Betonplatten dahin und durch schmucke Dörfer.
Vennbahngeschichten und Schinkengeschichten
In Poulseur verlasse ich die Ourthe und fahre per Zug nach Gouvy zum Verbindungsweg zur Linie 47. Die führt nach Burg-Reuland (4), mitten hinein in die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens mit ihren 80.000 Einwohnern, neun Gemeinden und eigens vier zuständigen Ministern. Auch Willi Wittrock lebt hier, mit ihm besuche ich die renovierte Burgruine Reuland. „Ich fühle mich einfach als Reuländer“, sagt der, „und bei den internationalen Fußballspielen als Belgier.“ Was wir heute hier sähen, sei nur noch ein kleiner Teil der ehemaligen Burg, erzählt Willi. Erbaut wurde sie im 10. Jahrhundert nach dem Eindringen der Normannen aus dem Norden und der Ungarn aus dem Osten. Von ihren mächtigen Mauern steht nur noch ein Bruchteil. Vom Turm aus haben wir weite Ausblicke in die Ardennen. Unten stehen zwei Fischreiher in der Ulf, unten verlief einst die Vennbahn. Auf ihrer Trasse soll es per Fahrrad weiter gehen Richtung Aachen. Und Willi erzählt eine seiner beliebten Vennbahn-Geschichten: „Hier war ja preußisch Sibirien, denn Preußen, das war Berlin, und wir waren ganz im Westen! Aber dann wurde ab 1885 die Bahn gebaut und durch diese kam der erste Wohlstand: Es gab Arbeit längs der Bahnlinie, Handel, Güter, die Möglichkeit zu reisen.“
Die Station Aachen Rothe Erde verband die Bahn mit Luxemburg: Kohle wurde ab Aachen transportiert, in umgekehrter Richtung ab Luxemburg Eisenerz. „30 Güterzüge pro Tag kamen hier durch. Das hat aufgehört nach dem 1. Weltkrieg wegen der neuen Grenzziehungen und der Zölle“, weiß Willi. Nach dem 2. Weltkrieg waren dann viele Brücken zerstört, und nach und nach fuhr gar keine Bahn mehr, auch nicht die touristische Museumseisenbahn. Aber das ist eine lange Geschichte. Nun sind daraus die fast gänzlich asphaltierten RAVeL-Linien 46 – 48 geworden, die Vennbahn-Route, die auf ihrer Gesamtlänge von 125 Kilometern durch drei Länder führt, Deutschland, Belgien und Luxemburg. Im ehemaligen Bahnhof Montenau (5) befindet sich heutzutage das „Restaurant Terminus“, wo man den Schinken aus der nahe gelegenen Ardenner Schinkenräucherei probieren kann. Diese liegt schräg gegenüber. Flugs auf eine der Klingeln am Eingang gedrückt, neben denen Deutsch, Französisch oder Niederländisch geschrieben steht, schon erscheint jemand, der dieser Sprache mächtig ist. Herr Rohs führt und erzählt Schinkengeschichten. „Es dauert fünf Monate, bis aus dem frischen Schinken ein echter Ardenner wird. Ganze vier Wochen lang wird er mit Buchenholz und Wacholderbeeren geräuchert.“ Es duftet! Und es schmeckt.
Mit einem Kilogramm echtem Ardenner Schinken in der Packtasche geht es beschwert aber auch beschwingt zum Abzweig auf die Linie 45 Richtung Malmedy (6) am Rande des Hohen Venns. Einst hatte der Ardennenapostel Remaklus hier eine Abtei gegründet, das Malmundarium. Darin findet sich heute ein Kulturzentrum erster Güte mit wechselnden Ausstellungen und Dauerausstellungen zur Papier- und Lederindustrie, die das Städtchen einst ernährten, mit einer Schatzkammer der Kathedrale, einem Karnevalsmuseum und dergleichen mehr. Karneval, auf Wallonisch Cwarmê, ist wie überall hier in der Gegend wichtig. Auch Aachen ist eine der Hochburgen des Karneval. Über die Vennbahn geht es dahin zurück: nach Aachen Rothe Erde, dorthin, wo einst der Transport von Kohle seinen Anfang nahm.
Maske im Karnevalsmuseum
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