Pilgern als Grenzerfahrung

Auf der Via Nova von Bayern nach Tschechien

Text und Fotos: Rainer Heubeck

Via Nova - Simone Krampfl

Schwer drücken die hell schimmernden Eisenketten auf die Schultern von Simone Krampfl. Langsam schiebt sie ihren Oberkörper nach vorne, die Kettenglieder streifen seitlich an ihr vorbei. Simone Krampfl spürt, wie die Last der Eisenketten langsam von ihr abfällt – und die warme Nachmittagssonne scheint ihr hell ins Gesicht. Das von den Ketten verhangene „Tor zur Freiheit“, das sie soeben durchschritten hat, wirkt durch die Ketten, die nun eine Art Vorhang bilden, wie wieder verschlossen. An den Eisenketten findet sich keine Spur von Rost – und das ist kein Wunder, denn das „Tor zur Freiheit“ ist neu installiert. Es ist so neu wie der letzte Abschnitt der Via Nova, eines grenzüberschreitenden Pilgerwegs, der erst seit 2012 von Österreich über Niederbayern auch nach Tschechien führt – und auf dem hier, kurz vor dem tschechischen Grenzort Buchwald, noch einmal an die Zeit des Eisernen Vorhangs erinnert wird. Nicht nur durch das symbolische „Tor zur Freiheit“, eine Installation auf der bayerischen Seite, auf dem Weg von Finsterau nach Buchwald, sondern auch durch ein Mahnmal auf tschechischem Gebiet: In Buchwald hat man einen kleinen Abschnitt Stacheldrahtzaun und einen Wachturm stehen lassen bzw. teilweise neu erstellt, um an die frühere Blockgrenze zu erinnern. Eine Grenze, die Simone Krampfl mit einem Grüppchen Pilgerwanderer heute lachend und fröhlich überschreiten kann.

Via Nova - Mahnmal bei Buchwald

Sechzig ausgebildete Pilgerwegbegleiterinnen und Begleiter bieten inzwischen Pilgerwanderungen entlang der Via Nova an. Simone Krampfl aus Annathal im Bayerischen Wald ist eine der Aktivsten. „Ich bin Pilgerwegbegleiterin geworden, weil die Via Nova direkt durch unsere Gemeinde führt. Ich bin schon immer schon gerne zu Fuß in der Natur unterwegs gewesen – und dass jetzt ein Pilgerweg direkt hier vor unserer Haustür durchgeht, hat mir natürlich gut gefallen“, berichtet sie. Dass die Via Nova ein grenzüberschreitender Pilgerweg ist, das ist für Simone Krampfl mehr als nur eine Randnotiz. „Ich bin zehn Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt aufgewachsen. Als Kind hatte ich immer das Gefühl, am Ende der Welt zu leben – denn es war ja Schluss, es ging nicht mehr weiter“, sagt Simone Krampfl. Heute kann sie die ehemalige Grenze zu Fuß überqueren – um sie kann von Buchwald aus nicht nur den 1264 Meter hohen Siebensteinkopf besteigen, ihre persönlichen Lieblingsstelle, sondern auch einen Abstecher zur Quelle der Moldau unternehmen. Eine Wanderung, auf der sie automatisch auf das Thema „Stirb und Werde“ stößt, denn zwischen abgestorbenen Bäumen, deren kahle Stämme fast wie Antennen in den Himmel ragen, keimt überall junges Grün.

Via Nova - Siebensteinkopf

Die Via Nova ist ein Weg, der Grenzen überwindet, und das in mehrerlei Hinsicht – zum einen, weil er bei Buchwald von Bayern nach Tschechien führt und auf beiden Seiten der Grenze mit dem gleichen gelben Schildern markiert ist. Zum anderen, weil er zwar von der katholischen Pilgertradition inspiriert ist, sich aber als konfessionsübergreifender Pilgerweg versteht. Auf der Strecke finden sich mehrere Gedenkstätten, die an die jüdischen Tradition in Westböhmen erinnern, die von den Nazis weitgehend ausgelöscht wurde: Das Simon-Adler-Museum in Gutwasser ist einer dieser Orte, aber auch die Bergsynagoge in Hartmanice, die mit privaten Mitteln renoviert und zum Museum umgebaut wurde.

Via Nova - Bergsynagoge in Hartmanice

Nicht nur der jüdische Glaube hat seinen Platz auf einer Pilgerwanderung entlang der Via Nova. Wer mit Claudia Buchner, einer weiteren Pilgerwegbegleiterin, unterwegs ist, kann mit der praktizierenden Buddhistin auch über die Grundzüge des fernöstlich inspirierten Religion diskutieren. „Im Buddhismus gibt es kein Schuld-und-Sühne-Denken, es gibt keine außen stehende Instanz, keinen Gott und auch keine Opferrolle“, erläutert sie. Wer sich mit ihr auf die Via Nova begibt, weiß, dass die praktizierende Buddhistin ist. Doch als Pilgerwegbegleiterin geht es ihr nicht darum, zu missionieren. „Das Begleiten steht im Mittelpunkt. Viele Menschen, die sich auf eine Pilgerwanderung begeben, durchleben gerade eine Krisen- oder Umbruchsituation in ihrem Leben“, weiß Claudia Buchner, die durch den Einsatz als Pilgerwegbegleiterin ihre Heimat neu kennen gelernt hat. Eine ihrer Lieblingsstellen entlang der Via Nova ist die Buchberger Leite, ein Wildbachklamm zwischen Freyung und Ringalei. „Dort ist es wunderschön, man sieht riesige Felsen und dichtes Moos – und man hat den Eindruck, dass hinter jedem Felsen gleich ein Gnom hervorspringt“, schwärmt Claudia Buchner.

Via Nova - Jozef Stemperk

Am nächsten Tag trifft die Pilgergruppe Jozef Stemperk. Der 36-jährige Tscheche arbeitet hauptberuflich als PR-Mann für den Šumava-Nationalpark, engagiert sich in seiner Freizeit aber ebenfalls als Pilgerwegbegleiter. Für den 36-jährigen bietet sich der Böhmerwald als Pilgerziel geradezu an: „Der Böhmerwald hat für mich etwas Geheimnisvolles und Melancholisches, er ist ein mystischer Ort, kein Ort für seichte Unterhaltung“, sagt Stemperk. Er führt seine Besucher durch das wildromantische Vydratal, zeigt ihnen einen Kraftort mit mannshohen Felsbrocken und empfiehlt einen Halt in der Thurnerhütte, der einzigen Übernachtungsmöglichkeit direkt im Kerngebiet des Nationalparks.

Seine Lieblingsstrecke freilich folgt am Nachmittag – der Anstieg von Reichenstein nach Groß-Babylon. Ein Abschnitt, der weite Fernsichten ermöglicht, ein Gebiet aber auch, das nahezu menschenleer ist. Denn nachdem die meist deutschsprachigen Bewohner der Orte und Gehöfte nach dem zweiten Weltkrieg vertrieben worden waren, betrieb die tschechoslowakische Armee hier einen Truppenübungsplatz. „Die verbliebenen Einöden und Stadeln waren während der Übungen oftmals Zielscheiben. Zudem waren die verlassenen Dörfer auch Kulissen für Kriegsfilme“, berichtet Jozef Stemperk, der sehr gerne hier unterwegs ist.

Via Nova - Vydratal

Ein Abschnitt, der nachdenklich macht - über das Werden und Vergehen, aber auch über die Schwierigkeiten des nachbarschaftlichen Umgangs. Doch die Vorbehalte zwischen Tschechen und Deutschen, nach Jozef Stemperks Erfahrung sind sie mittlerweile nahezu überwunden. „Sicher, es gibt ein paar Leute hier in Tschechien, die die Deutschen nicht mögen, und auch ein paar, die die Polen und alle anderen Nationen nicht mögen. Aber im Allgemeinen gibt es nur noch wenig Vorurteile. Man kennt sich, man kann frei über die Grenze fahren und man hat positive Erfahrungen gesammelt“, versichert Stemperk. Ein Zeichen der Annäherung ist auch, dass es auf der tschechischen Seite bereits mehrere deutschsprachige Pilgerwegbegleiter gibt. Und dass Kirchen und Kapellen, wie die St.-Gunther-Kirche in Gutwasser und die mittelalterliche Wehrkiche in Maurenzen, in deutsch-tschechischer Zusammenarbeit restauriert und reaktiviert werden konnten.

Via Nova - mittelalterliche Wehrkirche in Maurenzen

Zwischen sechs und acht Tagen, so rät Jozef Stemperk, sollte man sich Zeit nehmen für den tschechischen Abschnitt der insgesamt mehr als 400 Kilometer langen Via Nova, eines Pilgerwegs, der in St. Wolfgang in Österreich beginnt und am heiligen Berg der Tschechen unweit von Příbram endet. Rund160 Kilometer davon führen durch Tschechien. Eine Massenbewegung freilich ist das Pilgern auf dem tschechischen Abschnitt der Via Nova bislang noch nicht. Wer es vorzieht, auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln und wer überfüllte Pilgerherbergen schätzt, der ist auf dem spanischen Jakobsweg vermutlich besser aufgehoben.

 

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