Text und Fotos: Judith Weibrecht
Der Radweg führt zwar von London nach Paris oder umgekehrt, gibt sich aber grün, wie der Name schon sagt: Avenue verte. Die Westroute führt 398, die Ostroute 462 Kilometer lang durch grasgrüne Landschaften auf bereits existierenden südenglischen und nordfranzösischen Radwegen, die extra dafür kombiniert wurden. Weltstädtisch sind Anfang und Ende.
Erster Preis: Du fährst mit dem Fahrrad durch den Tunnel? Zweiter Preis: Du schwimmst mit dem Fahrrad durch den Ärmelkanal? Die Kommentare auf die Ankündigung, mit dem Fahrrad von London nach Paris reisen zu wollen, waren vielfältig, meist ungläubig und oft witzig. Doch es wächst zusammen, was zumindest fahrradtechnisch seit 2012 zusammen gehört: England und Frankreich, London und Paris, die Insel und der Kontinent. Die Idee zur Avenue verte bestand schon lange, die Olympiade 2012 wirkte wie ein Katalysator und der Traum wurde verwirklicht: Auf Radwegen, grünen Wegen und verkehrsarmen Nebenstraßen, auf Asphalt, Kies oder erdgebunden führt die Route durch verschiedenste Landschaften und Dörfer.
Los geht's am riesigen Riesenrad (1) mitten in London mit Blick auf die Houses of Parliament und Big Ben. Vom London Eye aus kann man ein Auge auf die britische Hauptstadt von oben werfen, bevor man sich auf den NCN 4 begibt, den Radweg des National Cycle Network mit der Nummer vier, der geradewegs hinaus aus London führt. Eine Weile geht es die Themse entlang, durch den quirligen Stadtteil Pimlico und natürlich so manch verkehrsreiche Straße entlang. Da allerdings fährt man auf dem "Cycle Superhighway Route 8". Räder, per Muskelkraft angetrieben, sind schneller unterwegs als motorisierte, die Radfahrer sind schick gekleidet und viele sind mit Falträdern unterwegs. Myriaden von ihnen flitzen zackig an mir vorbei, links und rechts in Schlangenlinien umfahren sie die Doppeldeckerbusse. Der Speed ist hoch im innerstädtischen Verkehr. Neben mir hat's ein Banker im Anzug mit Schlips eilig und brüllt: "To the left!" Tatsache, ich tue mich noch schwer mit dem Linksverkehr und schalte lieber einen Gang herunter.
Man landet geradewegs in Clapham Common (2), einem idyllischen Park mit dem italienischen Café "La Baita", das im Sonnenschein liegt. Zeit für eine erste Pause und dafür, die Londoner beim Sporteln zu beobachten: Cricket, Golf, Fußball. Erstaunlich naturnah geht's weiter auf dem Wandle Trail, der dem Flüsschen Wandle folgt, durch englische Dörfer mit Pubs und Shops und schließlich über die Hügel. Von so manchem rolling hill in den Farthing Downs hat man Ausblicke bis hinüber nach London.
Rolling Hills und Gatwick
Glück muss man haben. Gerade als ich an der Kirche St. Peter & St. Paul vorbei radeln will, kommen zwei Ladies, sperren die Türe auf, und ich kann sie besichtigen. Höflich, wie man hier ist, wird ein kleiner Plausch abgehalten, bevor ich weiterfahre und mich den steilen Abhang hinunterwerfe. "Passen Sie auf! Und bremsen Sie!" Mach ich.
Kaum ausgerollt, denke ich mir: Öfter mal was Neues. Die Flieger krachen kurz vor der Landung einige Meter über die Köpfe der Radfahrer hinweg. Der NCN21 führt mitten durch den Flughafen Gatwick an Flughafengebäuden vorbei und sogar unter ihnen hindurch. Ein Schild zeigt den Abzweig zum Gate. Weiter aber geht's den kleinen Fluss gleichen Namens entlang: Gatwick. Und schon ist man auf dem "Worth Way", einem Bahntrassenweg, der durchs Grüne führt. Die Gegensätze könnten auf diesem Abschnitt nicht größer sein. Sicher sind mir hier die meisten Hasen und Eichhörnchen auf dem ganzen Weg vor den Reifen gelaufen.
Manchmal fehlt ein Schild oder man sieht es nicht gleich. Doch die Engländer sind stets freundlich und so entspinnt sich schnell eine Konversation. "Wohin wollen Sie denn?" "Nach Paris!" "???" Pause. Darauf mussten wir erst mal ins Pub und das bei einem Pint besprechen. Pubs gibt es schließlich viele auf East Grinsteads (3) High Street mit so klangvollen Namen wie "The Dorset Arms" oder "The Ships Inn". Das historische Marktstädtchen ist voller Sehenswürdigkeiten mit alten viktorianischen Fachwerkhäusern, und dem altehrwürdigen Sackville College, ein 1609 vom Earl of Dorset gegründetes Armenhaus, das aus Sandstein erbaut ist. Hier könnte man das Rad in die Ecke stellen und mit einer alten Dampfeisenbahn fahren, der Bluebell Railway. Oder mit der Spa Valley Steam Railway von Groombridge nach Royal Tunbridge Wells.
Manch erdiger Waldweg, der Teil der Route ist, wird bei Landregen schlichtweg zu schlammig und matschig, wie beispielsweise der Forest Way bis Groombridge. Danach tritt man auf asphaltierten Nebenstraßen in die Pedale und hinauf aufs High Weald. Weald ist ein altes englisches Wort für Wald. Die bewaldeten Hügel sind gepunktet mit einzelnen Farmhäusern und Sandsteinformationen. Der Lohn der Anstiege sind typische Dörfer wie aus dem Englisch-Lehrbuch: Rotherfield, Mayfield, Heathfield. Welches ist nun das schönste? Ich wähle Mayfield (4) und gönne mir an der von herausgeputzten Häuschen gesäumten Hauptstraße einen Tee mit Milch und ein monströses Stück pinkfarbenen Kuchens.
Kuckuck, Kuckuck!
Grüne Hügel, viktorianisch angehauchte Dörfer, nun rollt man abwärts gen Küste auf dem asphaltierten, von Schatten spendenen Bäumen gesäumten Cuckoo Trail, den man sich mit Spaziergängern teilt, wie so oft auf den grünen Wegen Englands. Picknickplätze stehen bereit und wer aufmerksam ist, hört immer wieder einen Kuckuck rufen. Am Ende der Sause Richtung Süden lockt der Arlington Tea Garden. Lovely! Schon wieder eine Kuchen-Pause, bevor es hinauf geht auf die weißen Kalkklippen. Am Nachmittag gleißen sie in der Sonne, fast tut es den Augen weh. Drumherum das satte Grün der Regen getränkten Wiesen, die Kühe tun sich gütlich, davor das unruhige Meer.
Die Fähre stampft schon, die letzten Fahrräder rollen an Bord der "Côte d'Albâtre" in Newhaven (5), und sie legt ab Richtung Dieppe. Schnitt. Nun geht's vom Tea with milk zum Café au lait, von England nach Frankreich. Von einem Café au lait ist ein Tea with milk allerdings ungefähr so weit entfernt wie ein Fisch auf St. Paulis Markt von einer Kuh auf einer Allgäuer Wiese. Sagten in England die meisten: Are you not afraid?" (Haben Sie keine Angst?), wenn ich erzählte, was ich vorhabe, meinen die Franzosen nun: "Madame est très courageuse!" (Madame ist sehr mutig!).
Goodbye England. Bonjour France.
Der glatt asphaltierte Bahntrassenweg Richtung Forges-les-Eaux ist die reine Freude. Das Rad schnurrt vorbei an der mittelalterlichen Burg in Arques-la-Bataille, Schlössern, wie beispielsweise dem in Mesnières, oder einem ehemaligen Bahnhof, in dem heute ein Café mit Restaurant untergebracht ist wie in Nesle St. Saire. Im Pays Bray gilt es, sich an den berühmten Käse zu halten, den Käse aus Neufchâtel! Die Kuhdichte ist dementsprechend hoch, genauso die der Apfelbäume, aus deren Früchten man auch einige Spezialitäten herstellt: Cidre, Calvados, Apfeltarte.
In Forges-les-Eaux (6) kann man Häuser aus roten Ziegeln mit dunklem Fachwerk und Villen aus der Belle Epoque bewundern, das Museum des Widerstands und der Deportation besuchen oder das der Fayencen. Einst wurde das eisenhaltige Mineralwasser hier sehr geschätzt, selbst Richelieu, Voltaire, Marie Curie oder Ludwig XIII. reisten deshalb an. Wasser und Eisen machten die Stadt bekannt - und heutzutage ist sie auch für ihr Casino berühmt.
In Ménerval lockt eine Kirche oben auf dem Hügel aus dem Sattel, dann folgt das hübsche Örtchen Gournay-en-Bray, wo die Touristinfo in einem alten Kapuzinerkloster aus dem 17. Jahrhundert untergebracht ist. Ob man hier etwas sehen könne, frage ich. "Natürlich!" lautet die entrüstete Antwort. Ein Stadtplan mit den verzeichneten Sehenswürdigkeiten hilft weiter und leitet durch den Ort. Wo einst das Theater stand, ist nun gegenüber ein Mosaik, das darauf hinweist. Sehenswert ist auch das Pariser Tor, das aus zwei Pavillons und zwei Säulen besteht, errichtet vom Herzog vom Montmorency.
In St.Germer-de-Fly (7) mit seiner gewaltigen benediktinischen Abtei, die bereits im 7. Jahrundert gegründet wurde, fühlt man sich ganz klein: Die gewaltige, romanisch-gotische Abteikirche hat ein 20 Meter hohes Gewölbe. Hier gilt es sich zu entscheiden: West- oder Ostroute. Ich nehme die Westroute und biege rechts ab Richtung Tal der Epte. Es regnet beständig Bindfäden und so kehre ich in Sérifontaine in eine "Bar Tabac" ein, wo anscheinend das ganze Dorf bei Calvados versammelt ist. Ich bestelle einen wärmenden Café au lait am Tresen und werde vom Nächsten, der die Kneipe betritt, mit Handschlag begrüßt: "Bonjour, Madame!" Hat er mich verwechselt? Nein, man ist hier freundlich und aufgeschlossen Fremden gegenüber. Man teilt die Sorge über den Regen in der Normandie.
Schlossroute
Alles ist im Sprühregen verhangen, was seltsam schemenhaft und geheimnisvoll wirkt. Voraus radelt man duch einen triefenden Eichenwald mit würziger Luft geradewegs zum Chateau de la Rapée bei Bazincourt-sur-Epte (8). Was für eine Belohnung für den Regenritt. Ein "Accueil vélo" (Radfahrer willkommen) Betrieb, den man sich einfach gönnen sollte. Schlösser folgen nun Schlag auf Schlag: In Maison-Laffitte im Département Yvelines führt der Radweg geradewegs um das barocke Schloss aus dem 17. Jahrhundert. Filmliebhabern mag es bekannt vorkommen: Es diente als Filmkulisse in "Gefährliche Liebschaften".
Die Seine entlang und über die Seine führt der Weg nach St.-Germain-en-Laye (9), wo einen das nächste Schloss aus dem Sattel haut: Bereits im 13. Jahrhundert wurde es ursprünglich als Burg errichtet und war später Residenz der französischen Könige. Massen drängeln sich um Einlass. Im ausufernden Schlossgarten ist jedoch Platz für alle: Eine Mädchengruppe übt Rap mit einem coolen Vorturner. Eine Familie fläzt im Gras. Am Kiosk schlürft man Kaffee oder Wein. Auf der Place du Marché Neuf sitzt man in den zahlreichen Straßencafés und sieht Kindern beim Roller- oder Radfahren zu. Spezialitätengeschäfte reihen sich die Rue Pologne entlang. So viel Stadt ist plötzlich ungewohnt nach den langen Fahrten über Land. Die Sehenswürdigkeiten sind zahlreich, so dass man hier gut eine Übernachtung einplanen kann.Vom Balkon des Schlossparks aus blickt man hinüber bis nach Paris. Da will ich hin!
Noch eine Weile radelt man an der Seine, vorbei am Garten der Impressionisten und dann Pariser Kanäle entlang bis mitten hinein in die Rue St. Denis, wo sich Touristen Schulter an Schulter mit Einheimischen an den Geschäften vorbei schieben. Vor dem "Relais du Vin" gönne ich mir und meinem Fahrrad zur Feier des Tages ein Gläschen Wein. Dann folgen die letzen fünf Minuten. Kein Witz, ich bin plötzlich aufgeregt. Da: Das Ziel, die Kathedrale Notre Dame (10)! Ich berühre die Mauer. Scheinbar sehe ich aus wie das sprichwörtliche Honigkuchenpferd, denn alle lächeln mir so seltsam zu. "Das ist so unglaublich!" Was denn? "Ich bin von London bis Paris mit dem Fahrrad gefahren!" In der Tat. Das taugt zum Mythos.
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