Begegnung mit dem »Phantom der Berge«

Die hartnäckige Suche nach einem Schneeleoparden im Himalaya

Text und Fotos: Thomas Bauer

In Ladakh, dem äußersten Norden Indiens, gelingt es Reisebuchautor Thomas Bauer, einen Schneeleoparden in freier Wildbahn zu beobachten.

»Ist er dort vorn, Jigmet?«

Ich starre auf die Felswand, die sich sechzig Meter vor uns jäh erhebt. Außer vereistem Geröll und vereinzelten Felsbrocken kann ich nichts erkennen. Da scheint sich an einer Stelle plötzlich der Boden zu bewegen. Die Umrisse eines Tieres schälen sich aus dem Hintergrund. Für einen Moment tritt das »Phantom der Berge« aus der Deckung – ein ausgewachsener Schneeleopard!

Indien - Schneeleopard in Ladakh

Sein buschiger Schweif, beinahe so lang wie sein Körper, zuckt nervös. Er dreht den massigen Kopf in unsere Richtung und wittert, als wolle er herausfinden, welche Absichten wir hegen, ehe er sich würdevoll in höhere Lagen zurückzieht und schließlich in einem Felsspalt verschwindet. Niemals zuvor habe ich ein anmutigeres Tier gesehen.

Damit ist ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen, und ich durfte etwas erleben, das nur wenigen beschieden ist. Schon als Kind und Jugendlicher harrte ich stundenlang vor Zoogehegen aus, um einen Blick auf die scheuen Katzen werfen zu können. Ich mag die geheimnisvolle Aura, die den rauchgrauen Jäger umgibt. Da er zurückgezogen im unwirtlichen Hochgebirge lebt, weiß man noch immer erstaunlich wenig über den Schneeleoparden. Lange Zeit war sogar unklar, ob er zu den Groß- oder Kleinkatzen gehört; manche Forscher bezeichnen ihn bis heute als »Mittelkatze«. Andere vermuten, dass es mehrere Unterarten des Schneeleoparden geben könnte.

Über eines hingegen sind sich alle einig: Der Schneeleopard ist die am schwierigsten aufzufindende Katzenart. Tatsächlich gab es noch bis 1996 nur ein einziges Foto eines freilebenden Exemplars, aufgenommen in Pakistan von dem deutschstämmigen Naturforscher George Schaller. Ein Team um den Biologen Tom McCarthy konnte drei Jahre später bei einem Versuch über 1.300 Tage mit selbstauslösenden Kameras gerade einmal sieben brauchbare Bilder eines Schneeleoparden knipsen.

Kein Wunder, dass auch ich mich anstrengen muss, um dem König der Berge gegenüberstehen zu können. Dreieinhalb Wochen lang verlasse ich jeden Morgen bei Sonnenaufgang unser Zeltlager auf knapp viertausend Metern Höhe und werfe Expeditionsleiter Jigmet Dadul einen schnellen Blick zu. Dann folgen wir dem Verlauf verschneiter Täler, überwinden Hügel und Felsspalten und tasten uns auf vereisten Flüssen voran. Jigmet, Programmleiter der in Ladakh ansässigen Umweltschutzorganisation Snow Leopard Conservancy, führt seit einigen Jahren Naturliebhaber auf die Spuren der Raubkatzen. Er hat in seinem Leben vermutlich mehr Schneeleoparden gesehen als jeder andere.

Bei minus zwanzig Grad Celsius beißt jeder Atemzug in der Nase; das Wasser in unseren Trinkflaschen gefriert zu Eisklumpen. Mit kleinen, sicheren Schritten geht Jigmet mir voraus, langsam und konzentriert folge ich ihm. Die ungewohnte Höhe macht mir zu schaffen. »Genau wie eine Schildkröte«, bemerkt der Expeditionsleiter taktvoll, wenn ich wieder einmal mühsam zu ihm aufschließe.

Ladakh in IndienMeistens habe ich da längst verpasst, was seine geübten Augen in der bizarren Felslandschaft ausgemacht haben: ein Blauschaf, einen Steinbock, einen Fuchs oder einen Adler – nur eben keinen Schneeleoparden.

Der Gedanke, dass der lautlose Räuber, den wir so innig herbeisehnen, ganz in der Nähe ist und sich keine unserer Bewegungen entgehen lässt, macht meine Suche zur Obsession. Nach einigen Tagen halte ich jeden von der Erosion verformten Felsen für einen Schneeleopardenkopf und vermute den Gefleckten hinter jedem noch so kleinen Gebüsch. Nachts besucht er meine Träume.

Tatsächlich verschmilzt die Bergkatze zuweilen so gekonnt mit ihrer Umgebung, dass man ihr in Teilen Ladakhs magische Kräfte zuschreibt. In Liedern und Erzählungen ist vom »Phantom der Berge« die Rede, vom »grauen Geist«, dessen klagendes Rufen den Menschen nachts den Schlaf raubt und Kindern die Haare zu Berge stehen lässt. Es ist dieses Heulen, der Paarungsruf des Schneeleoparden, das bei westlichen Bergsteigern immer wieder Gerüchte über den Yeti befeuert.

Auf drei- bis siebentausend Tiere wird der weltweite Bestand der majestätischen Katzen geschätzt. Nach wie vor treiben Wilderer ihr Unwesen in den Revieren der Schneeleoparden. Die Bewohner im Verbreitungsgebiet der Katzen leben in Armut. Für Felle werden auf dem Schwarzmarkt enorme Summen geboten. Ein Schneeleopardenmantel, bestehend aus einem Dutzend Felle, bringt dem Verkäufer bis zu sechzigtausend US-Dollar ein. In China sind vor allem die Knochen begehrt, mit denen man Rheuma, Epilepsie und Impotenz behandelt.

Hier hingegen, im Hemis-Nationalpark, in den vereisten Bergfalten des Himalaya, in denen wir auf die Suche nach dem Berggeist gehen, erholt sich der Bestand der Schneeleoparden langsam. Jigmet Dadul lächelt, als er davon erzählt. Was er höflich verschweigt, ist der Anteil, den die Snow Leopard Conservancy an dieser Entwicklung hat. Jigmet und seine Mitstreiter gehen unermüdlich in die Schulen der Region, um Jugendlichen die Vorteile eines funktionierenden Ökosystems nahezubringen. Mit Spendengeldern finanzieren sie Elektrozäune, mit denen die Gehege der Schafe und Ziegen verstärkt werden, um diese vor Angriffen der Raubkatze zu schützen. Farmern gegenüber argumentiert Jigmet zudem erfolgreich, dass der langfristige Nutzen durch den aufkeimenden Tourismus größer ist als der kurzfristige Schaden, den ein Schneeleopard anrichten kann.

Tierkunde als Unterrichtsfach und ein modernes elektronisches Abwehrsystem: Jigmet Dadul und sein Team haben verstanden, welch kostbaren Schatz die rauen Hänge des Himalaya beherbergen. Dabei wissen sie sich auf einer Linie mit den Grundüberzeugungen eines Volksglaubens, der das Töten von Lebewesen nur im äußersten Notfall erlaubt und langfristig sinnvolle Lösungen favorisiert. In keinem anderen Land der Welt drückt sich der Buddhismus so überzeugend und farbenfroh aus wie in Ladakh, das nach der Vertreibung des Dalai Lama durch die Chinesen das religiöse Erbe Tibets verwaltet. Im äußersten Norden Indiens, der im Winter ausschließlich per Flugzeug erreichbar ist, fühlt sich der Gast auch heute noch in eine andere Welt versetzt. Auf Dächern und Brücken wehen Gebetsfahnen. Stupas in immer neuen Ausformungen zieren Anhöhen. Bäche treiben Gebetsmühlen an. Klosteranlagen wie jene in Hemis und Thikse scheinen aus Felsen und auf Hügeln zu wachsen, so harmonisch fügen sie sich in die Umgebung ein. Hunderttausende Steine sind mit der Formel verziert, die Gläubige mit unendlicher Geduld wiederholen: Om Ma Ni Pad Me Hum – ein Segensgebet für Körper, Geist und Seele. Das ganze Gebiet strahlt eine Ruhe und Friedfertigkeit aus, die in keiner Weise zum medial vermittelten Bild passt, das man sich gemeinhin von »Kaschmir« macht.

Das sind günstige Voraussetzungen für die scheuen Schneeleoparden, die wie kaum eine andere Tierart an das Leben in den unwirtlichen Bergregionen oberhalb der Baumgrenze angepasst sind. Viertausend Haare pro Quadratzentimeter Haut schützen die Raubkatze zuverlässig vor Kälte und Wind. Dank vergrößerter Nasenhöhlen erwärmt sich die Luft beim Einatmen, weil der Inhalationsstrom verlangsamt wird. Verglichen mit anderen Katzen weist der Schneeleopard eine hohe Konzentration von Hämoglobin auf, die es ihm ermöglicht, das Blut auch noch bei minus vierzig Grad im ganzen Körper zirkulieren zu lassen. Die Pfoten sind sehr groß und an den Sohlen behaart: So verteilt sich das Körpergewicht, und die Katze sinkt im Schnee kaum ein. Bei Kälte vergräbt der Schneeleopard die empfindliche Nase in seinen Schweif, bei seinen bis zu fünfzehn Meter weiten Sprüngen dient der Schwanz als Steuerruder.

Indien - Schneeleopard in Ladakh

Der Schneeleopard ist ein Wunder der Natur. Nur finden muss man ihn noch. Täglich streuen Jigmet und ich Schnee in Felsnischen aus und hoffen auf Spuren der Raubkatze. Wir suchen Kot und Beutereste, stundenlang beobachten wir die Felshänge durch Teleskope. Dreißig bis fünfzig Schneeleoparden leben im Hemis-Nationalpark – auf einer Fläche von viertausend Quadratkilometern! Unsere Suche entspricht dem Versuch, ein schäferhundgroßes Tier in einem schwer zugänglichen Gelände von der Größe des Ruhrgebiets zu finden. Mehr noch: einen weißgrauen Jäger vor weißgrauem Hintergrund zu sichten, den selbst die immer wachsamen Blauschafe und Steinböcke meist erst dann bemerken, wenn es für sie zu spät ist.

War ich blauäugig bei der Reiseplanung? Will ich zu viel? Warum sollte mir in wenigen Wochen gelingen, was Anderen vor mir in Monaten nicht vergönnt war? Diese Fragen drängen sich mir auf, während ich mit Jigmet durch die Hochgebirgstäler streife. Ungetrübt optimistisch stapft mir der Expeditionsleiter voraus. Er weiß, dass die scheuen Jäger ihrer Beute im Winter hinab in die Täler folgen. Dann kann man sie mit viel Glück in Höhen zwischen drei- und fünftausend Metern beobachten. Außerdem, vertraut er mir mit einem Augenzwinkern an, sind die ansonsten einzelgängerischen Katzen dann auf Partnersuche und insofern etwas abgelenkt.

Der Tag, an dem ich wirklich einem Schneeleoparden in dessen Lebensraum gegenüberstehen sollte, beginnt wie alle anderen zuvor. Bei Sonnaufgang verlassen Jigmet und ich das Zelt und folgen dem Verlauf eines Tals. Dieses Mal aber reißt Jigmet die Augen auf, als wir zu einer Felsnische kommen: Auf dem gestern von uns ausgelegten Schneeteppich zeichnet sich klar der Abdruck einer Pfote ab. Der Expeditionsleiter wird daraufhin ganz ruhig – so ruhig, als sei es für ihn bereits ausgemacht, dass wir den Gefleckten heute zu Gesicht bekommen werden. Am Ende des Tals angekommen, dreht sich Jigmet zu mir um und lächelt triumphierend. Kurz darauf sehe auch ich den Schneeleoparden.

Noch am selben Abend feiern wir unseren Triumph in Rumbak. Alle zwanzig Bewohner des Dorfes, das sich zwischen mehreren Sechstausendern in einer Falte des Himalaya versteckt, sind zusammengekommen. Während sich »unser« Schneeleopard längst in ein einsames Versteck zurückgezogen hat, singen und tanzen wir bis Mitternacht zu ladakhischer Volksmusik. Jigmet lächelt mir zu, und ich weiß, dass ich die Ereignisse des heutigen Tages nie mehr vergessen werde.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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