Höfische Kultur in Stein

Zunächst ist Hawa Mahal unser Ziel, der "Palast der Winde", der als Wahrzeichen der Stadt gilt. Der Ausblick von den windigen Erkern und Balkönchen hinunter auf die Altstadt und die weitläufige Palastanlage ist ausgesprochen spannend. Denn die fünfstöckige Fassade hatte Maharadscha Pratap Singh II. einst zum Zeitvertreib seiner Haremsdamen erbauen lassen. Verborgen hinter 953 Nischen und Fenstern konnten sie so die festlichen Umzüge und das Straßenleben beobachten. Von den oberen Rängen ist gegenüber das Jantar Mantar zu sehen, das Jai Singh zwischen 1728 und 1734 errichten ließ. Dieses größte steinerne Observatorium der Welt wird heute noch benutzt, vor allem zur Erstellung von Horoskopen, die im Leben der Inder eine prominente Rolle spielen.

Indien / Palast

Hoch oben thront der Palastkomplex von Amber, Foto: Dirk Renckhoff

Elf Kilometer nördlich von Jaipur thront der Palastkomplex von Amber auf einem Berghang. Die malerische Lage über einem See und die ausgeklügelte, reichhaltige Architektur der alten Rajputenfestung machen Amber zu einem Massenziel. Der Ritt auf Elefanten den steilen Burgberg hinauf ist dank fünf Busladungen mit amerikanischen Touristen an diesem Tag das große Geschäft mit der Nostalgie, der Fußmarsch hingegen ist umsonst und bietet die besseren Fotomotive. Übrigens: Die Dickhäuter von Jaipur sind dann wunderschön geschmückt, wenn die Stadt zu ihrem berühmten Elefantenfestival im März, dem Beginn des farbensprühenden Holi-Festes, einlädt.

Indien / Palast

Detail von der prächtigen Palastanlage von Amber, Foto: Dirk Renckhoff

In schwankender Höhe

Wir wollen es wissen und entschließen uns zu einem Ausritt der besonderen Art. Wir klettern auf den Höcker eines Dromedars, das uns am nächsten Tag bei einem Dorf außerhalb von Jaipur durch die Landschaft wiegen. Jensai Singh, der junge, agile Manager unseres Hotels hat die Kamel-Safari organisiert, um uns das traditionelle Landleben zu zeigen. Ein erfrischender Anblick: In ihren roten und safranfarbenen Gewändern gleichen die auf den grünen Weizenfeldern arbeitenden Frauen leuchtenden Blüten. In Gesprächen mit den Bewohnern lernen wir, dass sie trotz Not durch Dürre und Überschwemmung ihren Willen zur Selbst- und Gemeinschaftshilfe nicht verloren haben. Dennoch sei, so betont Singh, etwas Unterstützung von außen gut angebracht. Dank dieser wurden bereits Brunnen gegraben und Pumpen installiert. Und damit der dritte Klassenraum der Schule endlich benutzt werden kann, spenden wir gerne einige hundert Rupiah für das neue Dach.

Sadhu im Affentempel bei Jaipur

Abschied von Jaipur und von Rajasthan

Vor der Grenze zum Nachbarstaat Uttar Pradesh genießen wir nach fünfstündiger Busfahrt das Naturparadies des Keoladeo-Ghana-Nationalparks. In der früheren Jagddomäne der Maharadschas von Baharatpur, die sich ihre Beute an Wasservögeln durch Bewässerungsgräben und Dämme sicherten, finden hundert Arten, darunter rund 100 Zugvogelarten aus Nordostasien heute ungestört Nahrung und Brutplätze. Zu Fuß und per Fahrradrikscha geht es über die Dammanlagen in das 29 qkm große Feuchtgebiet. Wir haben Glück, entdecken gleich einige Axishirsche und können neben Löfflern, Silber- und Purpurreiher und Fasanen sogar zahlreichen Jungstörchen bei den Flugversuchen vor ihrer ersten großen Reise zuschauen.

Indien / Fischer

Fischer in einer Lagune zwischen Agra und Khajuraho

Am Denkmal der Liebe

Zwei Tage lang pausieren wir in Agra, der über 1,5 Millionen Menschen zählenden Stadt, die ganz im Bann des Taj Mahal steht, des weltberühmten Grabmahls. Dieses ließ der Mogul-Kaiser Shah Jahan seiner geliebten Mumtaz-i Mahal hatte errichten lassen.

UNESCO-Welterbe Taj Mahal, Foto: Dirk Renckhoff

Hotels und Restaurants aller Preisklassen, Souvenirläden, sich anbiedernde Schlepper, die für Teppichhändler und Edelsteinwerkstätten anschaffen - wer Indien als Tourismusmagnet erleben will, kommt in Agra voll auf seine Kosten. Aber sicher ist auch: Der Faszination dieses Juwels indo-islamischer Architektur kann sich niemand entziehen. Sei es mit den ersten Sonnenstrahlen, die erst zaghaft, dann kraftvoll auf das Marmorbauwerk am Ufer des Yamuna fallen, sei es tagsüber, wenn im Innern des Mausoleums Wachposten den Besucherstrom vor den Sarkophagen von Kaiser und Lieblingsfrau wie in einem Karussell in Trab halten, oder nachts, wenn sich der mächtige Kuppelbau und die himmelstrebenden Minarette in eine mystisch verharrende, scheinbar schwerelose Silhouette verwandeln.

Zum Fries der Liebe

Holperpiste, nervende Staus wegen teilweise schlimmer Unfällen und penibler Polizeikontrollen, staubverschmierte, hitzeverklebte Kleidung - die zwölf Stunden dauernde Fahrt nach Khajuraho bringt die anstrengende Seite einer Überlandreise nachhaltig ins Bewusstsein. Doch der souveräne Busfahrer Rishi und die neben seinem Lenkrad zwischen Räucherstäbchen und Blumen lächelnde Statuette von Gott Vishnu, der den Menschen stets wohlgesonnen ist, beschützen uns.

Indien / Fries

In Khajuraho: Lustvolles Treiben in Stein?

Verdientermaßen sinken wir nach der anstrengenden Fahrt in eines der Betten eines Vier-Sterne-Hotels. Unweit von diesem breitet sich eine der prächtigsten Tempelanlagen Indiens aus. Kein Wunder: Das verschlafene Städtchen Khajuraho war vom 7. bis 11. Jahrhundert Zentrum des Chandela-Reiches.

Die Chandela, Rajputen-Fürsten, errichteten vor rund zehn Jahrhunderten über 80 Tempel, deren Reichtum an Skulpturen einmalig ist. Wie in einem Schaukasten präsentieren Reliefs, Säulen und Gewölbe das indische Mittelalter. Soldaten, Bauern, Adlige, Musiker, Tänzerinnen und Götter, Elefanten, Rinder und viele andere Motive kann der Betrachter stundenlang Revue passieren lassen und realistische Bildhauerkunst vom Feinsten bestaunen. Das trifft besonders auf die detaillierten erotischen Darstellungen zu, die auch hartnäckige Kulturbanausen zur Tempeltour verleiten. Man meint, in diesen Liebesszenen gar das "Kamasutra in Stein" vor sich zu haben. Oder missverstehen wir diese Tempelkunst?

Indien / Skulpturen

Khajuraho: Kunst, Sex in Stein, Pornographie, steinerne Liebesfibel oder alles nur ein Missverständnis? Foto: Dirk Renckhoff

Auf zur Seele Indiens

Wuchtige Burgen und verwitterte Schlossgebäude, quirlige Dorfmärkte und fruchtbare Felder säumen die Fahrt dem Ganges entgegen, der als mäanderndes, silbriges Band durch die Ebene schneidet. Varanasi, für Hindus die heiligste unter den Städten, ist unser Ziel. Trübe Dunstschwaden kündigen die Heimat von rund zwei Millionen Menschen an. Seit mindestens 1600 Jahren, ein genaues Gründungsjahr kennt niemand, ist der unter den Briten Benares genannte Ort, wo die Flüsse Varuna und Asi in "Mutter Ganga" münden, religiöse und wirtschaftliche Drehscheibe. Vor 2 500 Jahren hatte Siddartha Gaudama, der große Buddha, im nahegelegenen Sarnath seine erste öffentliche Predigt gehalten, Grund genug für tägliche Pilgerfahrten aus ganz Asien in diese Region. Ab dem 12. Jahrhundert herrschten sechs Jahrhunderte lang muslimische Eroberer über Varanasi. Sie ließen auf den zerstörten Hindutempeln Moscheen errichten. Die heute zu besichtigenden Heiligtümer stammen fast alle aus dem 18. Jahrhundert, als die Stadt zu einem Zentrum hinduistischer Erneuerung heranwuchs.

Hinab an die Ufer des Ganges

Von unserer Unterkunft, die wie die meisten der besseren Hotels im Norden der Stadt beim Fernsehturm angesiedelt ist, machen wir uns noch vor der Morgendämmerung auf zu den Ghats, den Ufertreppen am Ganges. Der Sonnenaufgang an der Flussbiegung, die tagaus, tagein Tausende von Gläubigen zum rituellen Bad aufsuchen, gilt bei Reisenden als Muss. Doch wir sind uns bewusst, dass die Stufen am Wasser wie ein Prüfstein in Sachen "Indien verstehen" wirken können. Sie sind nämlich auch Schauplatz der Leichenverbrennungen, und man sieht außerdem hin und wieder im Morgenlicht Tote flussabwärts treiben. Säuglinge, Sadhus, die asketischen Wanderheiligen, und Leprakranke dürfen nicht verbrannt werden, sie haben sich die Reinkarnation bereits durch Reinheit beziehungsweise erlittenes Leid verdient.

Indien / Waschritus

Rituelle Waschung am Ganges

An den Verbrennungsghats herrscht absolutes Fotografierverbot. Zeitgenossen, die sich darüber hinwegsetzen, können das Erlebte offenbar nur mittels voyeuristischer Erinnerungsbilder verarbeiten.

Die "Seele Indiens" wird Varanasi genannt, gerade wegen der Geschehnisse am Gangesufer, wegen des unaufhörlichen Nebeneinanders von Leben und Tod, von Weihrauch und Scheiterhaufenqualm. Aber auch wegen des grellen, geballten Kontrasts zwischen hungernden Bettlern und prall gefüllten Kaufhäusern, zwischen Reinigungsriten am Fluss und düsteren Gassen, die vom Müll und vom Mist der geheiligten Kühe übersät sind.

Indien / Ganges / Sonnenaufgang

Sonnenaufgang am Ganges

Mancher Besucher wird nach dem Ausflug zu den Ghats den Hotelpool zum Stammplatz in Varanasi erklären. Einige von uns zieht es am Abend erneut zum Fluss, wo Priester mit durchdringenden Gongschlägen, Feuerwedeln und Gebeten das Wohlwollen von Göttern und Verstorbenen beschwören. Auf der Rückfahrt mit der Fahrradrikscha blockiert eine Hochzeitsprozession die Hauptstraße. Männer ziehen uns lachend in die tanzende Menge. Wir wirbeln im Schein gleißender Neonlampen mit und wissen, dass wir Indien ein kleines Stück näher gekommen sind.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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