Eine Tour durch die Altstadt von Fes

Im Strom der Düfte, Klänge und Begegnungen

Text und Fotos: Robert B. Fishman

Marokko - Mittelalterlichen Stadttor Bab Chorfa in Fes

Mittelalterlichen Stadttor Bab Chorfa in Fes

Marokkos drittgrößte Stadt Fes beherbergt eine der größten arabischen Altstädte der Welt: ein Gewirr aus bis zu 1000 Jahre alten Gassen auf rund sechs mal drei Kilometern. Verkehrs- und Transportmittel sind Handkarren und Lastesel. Für Autos sind die Wege zu schmal. Bewohner und Staat haben nicht genug Geld, um die baufälligen Häuser zu sanieren. Trotz Stützmauern und anderer Rettungsversuche stürzen immer wieder Gebäude ein. Die Fundamente ziehen Wasser. Die alten Dächer werden undicht. Die wahre Schönheit der Medina erschließt sich jenseits der schlichten, grau-beigefarbenen Mauern, die man von den Gassen aus sieht. Prachtvolle Innenhöfe, so genannte Rijads, verziert mit uralten Mosaiken, Brunnen und Holzschnitzereien erinnern an die Zeit, als Fes das geistige und religiöse Zentrum Marokkos war. Inzwischen kaufen reiche Marokkaner und Ausländer Häuser in der Altstadt und bauen sie zu Hotels, Gästehäusern, Restaurants und Privatresidenzen um.

Marokko - Restaurant in einem traditionellen Rijad (Innenhof) in der Altstadt von Fes

Restaurant in einem traditionellen Rijad (Innenhof)

Im Irrgarten aus Marktgasse, dunklen Passagen, und schulterschmalen Durchgängen vermischen sich die trancehaften Klänge der Gnaoua-Musik ehemaliger schwarzer Sklaven mit Hammerschlägen der Kupferschmiede, Kräuterdüften des Gewürzmarktes und dem beißenden Gestank der Gerbereien.

Marokko - Gerberei in der Altstadt von Fes

Historische Gerberei in der Altstadt von Fes

In einem Meer von gemauerten Bottichen stehen hagere, in braune Lumpen gewickelte Gestalten in braungelber Brühe. Mit Taubenmist, Kalk und anderen Zutaten entfernen sie über Stunden in gebückter Haltung die Haare von ungezählten Kuh- und Schaffellen, um daraus nach vielen weiteren Arbeitsschritten samtweiche Lederwaren zu fertigen: Jahrhunderte alte Handwerkstradition, die ehemalige Gerber gerne den Touristen in allen Reisesprachen dieser Welt erklären. Längst sind viele der aus Lehm und Kalk gemauerten Gefäße undicht geworden. Das einst berühmte marokkanische Leder, das den Feinlederwaren ihren französischen Namen Maroquinerie gab, kommt noch billiger aus asiatischen Fabriken.

Marokko - Gerberei in der Altstadt von Fes

Wenige Schritte von den Gerbereien entfernt steigt ein schwerer Geruch nach feuchter, gefärbter Wolle aus einem Teppichladen: Dort leuchten die Handarbeiten der Berberfrauen aus den Dörfern des Atlasgebirges in rot, orange, blau und gelb, als beherbergten sie in ihrem Inneren magische Lampen. 40 verschiedene Farben verarbeiten die Mitglieder der Teppichkooperative, die den Laden beliefert. An einem Kelim, eine besonders aufwändige Teppichsorte, arbeitet eine Knüpferin nach Auskunft des Ladenbetreibers rund 2 Wochen. Im Laden kostet das gute Stück umgerechnet 150 Euro. Davon gehe gut die Hälfte an die Hersteller.

Marokko - Laden für Berber-Teppiche in der Altstadt von Fes

Laden für Berber-Teppiche in der Altstadt

Handwerker haben die Altstadt von Fes einst reich und berühmt gemacht. Noch heute beherbergt die Medina mit ihren rund 11.000 historischen Gebäuden mehr als 1200 Handwerker- und Künstlerateliers.

Marokko - Tischlerwerkstatt in der Altstadt von Fes

Tischlerwerkstatt

In kammerkleinen bis an die Decke vollgestopften Werkstätten restaurieren Tischler mehrere Jahrhunderte alte Türen, Fenster und Holzdecken nach Originalvorlagen, viele davon aus dem Mittelalter. Mustafa, ein kleiner, gedrungener Mann Anfang 40, hobelt auf seiner Werkbank ein Brett zurecht. Die Späne duften nach frischem Zedernholz. Im Hintergrund klingt arabische Musik aus einem alten Transistorradio. An den Wänden seiner kleinen Werkstatt hängen kleine Anrichten aus fein geschnitztem, bemaltem Holz, in hölzerne Rahmen gefasste Spiegel und fein zisilierte Scherenschnitte. Nach diesen Vorlagen restauriert er teilweise Jahrhunderte alte Türen und Fenster. „Kaum jemand beherrscht diese alten Schnitztechniken noch“, erzählt Mustafa, während er ein Brett für eine 300 Jahre alte Tür vorbereitet. Das Handwerk hat er von seinem Vater gelernt. Von ihm hat er auch die keine Werkstatt in der Altstadt übernommen. Viele Kunden kämen mit Fotos oder gleich mit verblichenen, kaputten Türblättern und Fensterrahmen. Die meisten Handwerker hätten, so Mustafa, heute nicht mehr Geduld, die alten Sachen zu restaurieren. An einer Tür arbeitet der Tischler normalerweise anderthalb Monate und bekommt dafür umgerechnet etwa 200 Euro, rund einen durchschnittlichen marokkanischen Monatslohn. „Neu bauen ist einfacher und billiger“.

Darunter leidet die ganze Altstadt. Über Jahrzehnte zogen die, die es sich leisten konnten, an den Stadtrand oder in die komfortablere Neustadt, wo die meisten Häuser Badezimmer, Duschen und oft auch Klimaanlagen haben. In der Medina blieben die Armen, die sich den Erhalt der alten Bauten nicht leisten können.

arokko - Traditionscafé Zanzibar in der Neustadt von Fes

Traditionscafé Zanzibar in der Neustadt

Inzwischen hat die Regierung eine eigene Organisation zur Rettung der Weltkulturerbe-Altstadt gegründet, die ADER. Doch das Geld aus der Hauptstadt reicht hinten und vorne nicht. Nur die nötigsten Rettungsmaßnahmen für die 4000 akut einsturzgefährdeten Gebäude würden nach Berechnungen der ADER rund eine Milliarde Dirham, etwa 100 Millionen Euro kosten, eine in Marokko unvorstellbare Summe.

Die Altstadt von Fes, mit etwa 120.000 Einwohnern größte und älteste in Nordafrika, überschwemmt Besucher mit einer Flut an Bildern, Klängen und Gerüchen. Nur ein paar Schritte von Mustafas Werkstatt entfernt locken auf einem Holzkarren ausgebreitete leuchtend rote Tomaten neben frisch gepflückter Minze, die gemischt mit schwarzem Tee und gefühlt kiloweise Zucker das Nationalgetränk, den „marokkanischen Whisky“ ergibt.

Marokko - frische Minze auf einem Verkaufskarren in Fes

Frische Minze auf einem Verkaufskarren in Fes

In vielen der winzigen, offenen Ateliers sitzen Schneider. Aus den Fäden, die Männer entlang den Mauern der Altstadthäuser spinnen, nähen sie Djellabahs: die traditionellen marokkanischen Woll-Gewänder mit ihren zipfelmützenartigen Kapuzen. Meist bringen die Kunden die Stoffe mit, erzählt Elblaghmi Aziz, der das Handwerk von einem Ma’Alem, einem Meister gelernt hat. In seinem höchsten zehn Quadratmeter kleinen, zur Gasse hin offenen Atelier hat neben ihm, den Kartons voller Stoffe, und dem großen Arbeitstisch nichts mehr Platz.

Marokko - eine der vielen kleinen Schneiderwerkstätten in der Altstadt von Fes

Eine der vielen kleinen Schneiderwerkstätten

Die Winter in Fes sind kalt. Nachts friert es oft. Kaum eines der feuchten, alten Häuser hat eine Heizung. Keine 70 Kilometer südlich, in Ifrane, liegt eines der drei Skigebiete Marokkos mit Liften, Abfahrten, Chalets und Hotels. So tragen die Einheimischen auch im Alltag die wärmenden Djellabahs. Im Sommer schützen die weiten, wallenden Gewänder gegen die Hitze von bis zu 50 Grad.

Statt Klimaanlagen hat das alte Fes viele Brunnen. Zum Schutz vor der Sommerhitze und vor neugierigen Blicken baute man die Häuser um Innenhöfe. Die zieren mit Mosaiken ausgelegte Wasserspiele.

Marokko - Medersa Attarine in der Altstadt von Fes

Medersa Attarine in der Altstadt

„Wasser“, erklärt Stadtführer Imad, ist für uns „ein Geschenk Gottes. Es ist heilig, wie das Leben, eine Gabe Allahs.“ Der bärtige junge Mann mit den stets wachen Augen arbeitet für die marokkanische Tourismuswerbung: Betriebswirt, 29 Jahre jung, die Hände immer an seinem Smartphone, spielt er stundenlang, simst oder chattet auf Facebook. Zwischendrin lässt er eher beiläufig Sätze aus einer anderen Welt los: Sie beginnen mit „In unserer Religion“ und künden meist von spiritueller Gläubigkeit. „Hamdullah“, beendet er gerne seine Aussagen und auch jede Mahlzeit: „Gott sei Dank“ und es klingt so, als meine er nicht einen strengen Gottvater, der uns das Denken abnimmt und alles so bestimmt, wie es die Verbohrten aller Religionen gerne hätten, sondern eher ein wohlwollendes übersinnliches Wesen, das die Menschen auf ihren Wegen begleitet. In den Innenhöfen der Moscheen, die „Ungläubige“ nicht betreten dürfen, sitzen in sich versunken Betende: entspannte Menschen mit meist zufriedenem Gesichtsausdruck.

Marokko - Fes: Blick über die Stadt

Blick über die Altstadt

Nicht nur der aufgekratzte jüdische Anwalt Philippe* bestätigt, dass Toleranz und tiefe islamische Religiosität in Marokko zusammenfinden. Wie zum Beweis seiner problemlosen Integration in die muslimische Gesellschaft empfangen ihn der Gerichtsdiener am Landgericht und ein Kollege mit Wangenkuss. Durch die offenen Bürotüren grüßen Staatsanwalt und Richter freundlich.

„Wir sind Freunde, nein kein Problem.“ Philippes Stimme wird laut - so als müsse er überzeugen, koste es was es wolle. Alle wüssten, dass er Jude sei, versichert er und zeigt auf die Mesusen - die kleinen hölzernen Behältnisse für heilige jüdische Schriften an jeder Tür in seiner Kanzlei - und stellt seine beiden Büroangestellten vor: Zwei junge Frauen im traditionellen marokkanischen Kaftan, das Haar unter hellblauen, akkurat sitzenden Kopftüchern verborgen lächeln freundlich nickend.

Philippe wohnt in der von den Franzosen in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts entlang schnurgerader Boulevards gebauten Neustadt. Dort hin fahren die von Rost und roter Farbe zusammengehaltenen „Kleinen Taxis“. Wie Hummeln sausen diese betagten Fiat Uno - viele von ihnen haben 700.000 und mehr Kilometer auf dem Tacho – beständig durch die Straßen. Ein Wink genügt, damit der Fahrer anhält und die Probleme beginnen: Viele sprechen nur Arabisch und können wenig mit auf Französisch geäußerten Wünschen anfangen.

Der Taxifahrer, ein freundlicher älterer Herr, blickt auf die arabische Visitenkarte, schaut fragend auf und dann wieder auf die Karte bis klar wird, dass er nicht lesen kann. Nichts zu machen. Am Steuer des nächsten Taxis sitzt entspannt und gut gelaunt ein junger Mann. Er spricht fließend Französisch. „Uns geht es gut hier“, beantwortet er die Frage nach wirtschaftlichen Problemen und den vielen Jugendlichen, die in der Hoffnung auf ein vermeintlich besseres Leben oft unter Lebensgefahr nach Europa flüchten. Nein er bleibe wie alle seine Freunde hier. Einer seiner Bekannten sei nach Frankreich gegangen und zurück gekommen.

„Wenn ich Geld brauche, fahre ich Taxi oder suche mir einen anderen Job, bis ich wieder genug habe. Dann höre er auf und „lebt, bis das Geld wieder alle ist. Wir Marokkaner“, sagt der 33jährige „denken nicht an morgen. Wir leben im hier und heute.“ Abends geht er gerne in den Clubs der Neustadt feiern und frönt einem in Marokko beliebten Hobby: Der Nordosten des Landes gilt als das größte Cannabis-Anbaugebiet der Welt. „Wenn sie Dich mit einem Joint erwischen gehst Du für 24 bis 48 Stunden in den Knast. Wenn Du dazu noch Grass dabei hast, können es auch zwei Wochen werden.“ Gefährlich findet er die Kifferei trotzdem nicht: „Wenn ein Polizist kommt musst Du Deinen Joint nur schnell genug verschwinden lassen. Das gebietet doch schon der Respekt vor dem Amtsträger.“

Marokko - Bab R'cif Stadttor der Altstadt von Fes

Bab R'cif Stadttor

„Möchtest Du etwas mit uns trinken“, fragt der junge Mann hinter dem Grill am R‘Cif Tor zur Altstadt, wo die Taxis und Busse halten, deren Passagiere in den Gassen der Medina zu Fuß weiter gehen müssen. Er zeigt mit einer freundlichen Geste auf die leere Plastikstuhlreihe hinter sich, die zu einem kleinen Café gehört. Seine Frage klingt mehr wie eine Einladung als nach einem Verkaufsgespräch.

Gerade hat er unter einem Regenschirm den kleinen rostigen Grill vor seinem Cafe angeheizt. Die feucht gewordene Holzkohle qualmt mächtig. Als wolle der Himmel die Marokkaner für die Trockenheit der letzten Jahre an einem einzigen Tag entschädigen schüttet es wie aus Eimern. Selbst der Wasserverkäufer, der in seinem leuchtend roten Gewand seine Runden dreht, um aus bronzefarbenen Metallbechern schluckweise sein Getränk zu verkaufen, ist vor dem Regen unter das Stadttor geflüchtet. Heute ist nicht sein Tag.

Marokko - Wasserverkäufer in traditioneller Tracht in der Altstadt von Fes

Wasserverkäufer in traditioneller Tracht

„Ich warte auf Leute, wir haben es eilig“, entschuldige ich mich. Der junge Mann am Grill schaut mich verwundert an, überlegt einen Moment und lächelt. „Eilig haben es bei uns nur die, die auf den Friedhof müssen.“ Nach islamischem Ritus müssen Tote binnen 24 Stunden beerdigt werden. Lebende haben Zeit.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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