Text und Fotos: Dagmar Krappe
Seit 25 Jahren taucht die niederländische Stadt an der Ijssel für ein Adventwochenende in die viktorianische Zeit des 19. Jahrhunderts ein.
Ebenezer Scrooge
Nein, er ist überhaupt nicht zufrieden. Die Welt ist schlecht. Die Menschheit taugt nichts. Die Wirtschaft steckt in der Krise. Zeternd, mit mürrischem Gesicht schreitet er - mit schwarzem Mantel und Zylinder bekleidet - übers Kopfsteinpflaster. Er beschimpft wer oder was immer seinen Weg kreuzt. Ebenezer Scrooge ist sein Name. Das freundliche „Merry Christmas“, das von allen Seiten durch die Straßen tönt, denn es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten, überhört er geflissentlich. London, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die feine Gesellschaft hat sich herausgeputzt. Flaniert durch die Gassen der Stadt. Trifft sich zum Plausch. Doch nicht jeder wandelt auf der Sonnenseite des Lebens.
Die feine Gesellschaft
Am Ende der Straße mühen sich Frauen und Mädchen mit Waschbrett und Bürste ab, um ihre Wäsche zu reinigen. Aus schweren Bottichen dampft die heiße Waschlauge. Gegenüber spielt die Heilsarmee „Molly Malone“, und rußverschmierte Waisenkinder liegen bettelnd und halb erfroren in der Gosse. Scrooge hastet weiter. „Macht Platz für den Tod“, hallt es durch die Häuserschlucht. Der schlecht gelaunte Mann muss einem Leichenzug ausweichen. Neben einer Suppenküche bleibt er stehen. „Ein Teller Erbsensuppe – zwei Euro“, steht auf dem Schild. Das klingt weder nach 1860 noch nach britischem Königreich. Alles ist nur gespielt. Seit über 20 Jahren findet an einem Wochenende im Dezember das Charles-Dickens-Festival im niederländischen Deventer statt. Der britische Autor, der vor 200 Jahren in Portsmouth geboren wurde, ist der geistige Vater von Ebenezer Scrooge, Oliver Twist, David Copperfield, Nicholas Nickleby, Samuel Pickwick, Uriah Heep und Toby Veck.
Die Heilsarmee
Doch Charles Dickens lebte in England. Kam nie nach Deventer. Wieso wird es dann einmal im Jahr viktorianisch in der Kleinstadt an der Ijssel? Die Erfinderin des Festivals ist Emmy Strik. In der Walstraat im Bergkwartier betrieb sie Jahrzehnte einen kleinen Laden für Geschenkartikel, den heute ihre Tochter führt. Im Dezember 1991 wollten die Stadtväter einen verkaufsoffenen Sonntag abhalten. Emmy Strik war strikt dagegen: „Nach sechs Arbeitstagen wollte ich nicht auch noch sonntags hinter der Ladentheke stehen. Wenn es schon sein musste, dann sollte an dem Tag etwas Besonders stattfinden.“ So kam ihr die Idee zu einem viktorianischen Fest. „Ich habe die Dickens-Bücher verschlungen und liebe England“, erzählt die heute 73-Jährige, die während der Veranstaltung eine Zofe Queen Victorias mimt: „Das Ambiente unserer Hansestadt mit Häusern aus verschiedenen Epochen, viele aus dem 16. und 17. Jahrhundert, und Kopfsteinpflasterstraßen bildet doch die perfekte Kulisse.“ 70 Akteure konnte Emmy Strik damals zum Mitmachen bewegen. Heute sind es um 1.000 Deventer, die in viktorianische Kleider schlüpfen und Charaktere aus den berühmten Dickens’schen Werken „Eine Weihnachtsgeschichte“, „Oliver Twist“, „David Copperfield“, „Nicholas Nickleby“, „Der Raritätenladen“ „Die Silvesterglocken“ oder „Große Erwartungen“ darstellen.
Hansestadt Deventer an der Ijssel
„Wir spielen die Rollen nicht“, meint Loek van Voorst: „Wir sind zwei Tage lang die Person, die wir darstellen.“ Seit 20 Jahren ist er der herzlose Ebenezer Scrooge aus dem Roman „Eine Weihnachtsgeschichte“. „Nach den Feiertagen darf ich wieder lustig sein“, sagt van Voorst: „Denn über Weihnachten läutert sich Scrooge, wird warmherzig und wohltätig. Aber an diesen beiden Tagen kann ich mal so richtig was vom Stapel lassen. Das macht Spaß.“
Mit seinen Veröffentlichungen wollte Dickens die Aufmerksamkeit der Leser auf die Not der Armen, Kinderarbeit, die sozialen Missstände in der englischen Gesellschaft lenken. Stark autobiographische Züge trägt die Geschichte über David Copperfield. Wie Dickens arbeitet sich die Romanfigur aus miserablen Verhältnissen zum angesehenen Schriftsteller empor.
Queen Victoria
Eine Dudelsackgruppe und Wachsoldaten ziehen auf. Alle zwei Stunden lässt sich Queen Victoria in einer schwarzen Sänfte durch die Straßen tragen, um ihren Untertanen zuzuwinken. Die Wachen vor „ihrem Palast“ in der Walstraat sind so stumm und steif wie ihre Londoner Vorbilder. Hinter einer Mauer bildet Fagin, ein Landstreicher aus dem Roman „Oliver Twist“, gerade eine Bande elternloser Kinder zu Taschendieben aus. Ein Schäfer zieht mit seiner Herde Richtung Bergkirche. Die feine Gesellschaft rümpft die Nase. In der Roggestraat wird es eng. „Votes for Women“, steht auf den Schildern, mit denen die jungen Kammerzofen und Küchenhilfen für ein Frauenwahlrecht kämpfen. Die sieben Herren in Frack und Zylinder haben ganz andere Sorgen. Auf ungefederten, historischen Hochrädern holpern sie übers Kopfsteinpflaster.
Frauen kämpfen für das Wahlrecht
Auch kurze Szenen aus einzelnen Dickens-Werken werden aufgeführt. Mehrmals am Tag singt ein Kinder- und Jugendchor vor der Kirche, dem höchsten Punkt des mittelalterlichen Viertels, Lieder aus dem Musical „Oliver Twist“. Alle Geschäfte des Bergkwartiers haben während des Festivals geöffnet. Die Ladenbesitzer sind verpflichtet, sich der viktorianischen Zeit entsprechend zu kleiden. Das Warenangebot könnte nicht passender sein: feinstes Geschirr, Schokoladenspezialitäten, Tee, Käse, Hüte, Bürsten, Bücher, antiquarische Möbel. „Mistelzweige. Kauft Mistelzweige. All you need is love“, ruft eine junge Blumenverkäuferin: „Ein Bund 5 Euro.“ Da ist sie wieder - die Neuzeit!
Verkauf von Mistelzweigen
Fürs leibliche Wohl der rund 150.000 Besucher ist während des Festivals gesorgt. „Hier gibt es die besten Muffins und gefüllten Waffeln“, preist eine Küchenmamsell ihre Produkte an. Auf der anderen Straßenseite wartet saftiger Deventer Honigkuchen, den auch die holländische Königsfamilie regelmäßig genießt, auf Käufer. Der Duft von gebrannten Esskastanien zieht um die Bergkirche. Auch auf Punsch und Bockwurst muss niemand verzichten: „Wat zijn ze lekker, wat zijn ze fijn. Warme worsten, warme wijn“, schallt es durch die Gassen. Übertönt werden die Marktschreier nur von den zahlreichen Chören und Musikkapellen, die alle paar Meter stimmungsvolle Weihnachtslieder zum Besten geben.
David Copperfield hat seine Verlobte Dora Spenlow untergehakt. Sie wollen den Nachmittag in der Stadt verbringen. Ein paar einflussreiche Freunde treffen. Ein zeternder Mann mit wehendem weißen Haar und schwarzem Mantel kommt ihnen entgegen. “Merry Christmas, Mister Scrooge.“
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