Luzern
Kunstmuseum
ABC der Bilder
Die Sammlung lesen bis 19.11.2023
Ferdinand Hodler, Der Tag III, um 1901 Öl auf Leinwand, 169.5 × 366.5 cm, Kunstmuseum Luzern, Depositum der Stiftung BEST Art Collection Luzern, vormals Bernhard Eglin-Stiftung
Wer beim Besuch erwartet, dass nun zu jedem Buchstaben des Alphabets eine thematische Entsprechung präsentiert wird, der muss sich eines Besseren belehren lassen. In der Auswahl liegt die Stärke. So werden Kapitel wie u. a. Archiv, Bildkompetenz, Politik, Zeichen und Symbol aufgeblättert, verbal und visuell. Neben dieser „systematischen Einordnung“ gibt es aber auch Multimediatexte zu einzelnen Werken, sodass sich der Besucher nicht allein mit der Anschauung und der eigenen Interpretation des Bildinhaltes zufrieden geben muss, sondern auch eine kunsthistorische Interpretation zur Kenntnis nehmen kann. Öffentliche Führungen und Werkbetrachtungen, an denen Besucher teilnehmen können, sind eine sinnvolle Ergänzung zum Besuch.
Taryn Simon, Folder: Television Programs (Picture Collection), 2012, Inkjetprint, 120 × 158.1 × 7 cm, Kunstmuseum Luzern
Beginnen wir mit dem Buchstaben A und dem Begriff Archiv, der das bezeichnet, was man mit dem Gedächtnis einer Gesellschaft und Kultur beschreiben kann. Dabei hat ein Archiv die Aufgabe der Dokumentation und zwar eine öffentliche Dokumentation. Das war schon bei der Gründung der Kunstgesellschaft Luzern im 19. Jh. das Ziel und die gestellte Aufgabe. Berühmt als Archiv ist der von Aby Warburg in den 1920er Jahren angelegte Bildatlas, wie dem entsprechenden Saaltext zu entnehmen ist.
Irma Ineichen, Ein anderer Abend, 2013Öl auf Leinwand, 100 × 70 cm,
Courtesy of the artist
Auffällig sind die blau-weißen Straßenschilder, die wir sehen. Sie enthalten keine Platz- oder Straßenamen, sondern Inschriften wie „nie besang nase bein“ und das Kürzel at. Hinter dem Kürzel verbirgt sich André Thomkins, der uns Palindrome zeigt. Dabei spielt er mit der Sprache, setzt Sätze neu und teilweise sinnentleert zusammen, schafft überraschende Wortschöpfung, auch in einer eigenen Kleinschreibung. Mit Wegorientierungen hat der Luzerner Künstler wohl wenig im Sinn oder doch? Auf einem anderen Schild entdecken wir „nie reime, da kann Akademie rein“. Wo?, fragt sich der Betrachter. Recht ausführlich präsentiert man Druckvorlagen des Magazins camera, einst eine Monatszeitschrift für Berufsfotografen und Amateure. Dieses Magazin erschien bis 1981 und wurde dann auf Geheiß des Verlags Bucher eingestellt. Zeitgenössische Fotografie wurde präsentiert, darunter solche von Man Ray, Henry Fox Talbot und Diane Arbus. Einige Negative sind in der Schau zu sehen, darunter auch das letzte Coverfoto mit einer Nackten, die dem Betrachter das Gesäß hinstreckt. Muss man da nicht an das berühmte Zitat von Götz von Berlichingen denken? Und man kann auch nachlesen, was der Chefredakteur des Magazins davon hielt, dass das Magazin vor dem 60. Geburtstag eingestellt wurde.
Edouard Castres, Zug der Verwundeten (Studie zum Bourbaki-Panorama), 1876–1877Öl auf Leinwand, 54.3 × 183 cm, Kunstmuseum Luzern, Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Gottfried Keller-Stiftung, Bern
Nachfolgend widmet sich die interessant strukturierte Ausstellung dem Thema Bildkompetenz. Die Frage ist dabei, wie wir Bilder lesen (können). Das ist auch abhängig vom gesellschaftlichen und politischen Kontext, in dem die Bilder entstehen. Zudem müssen wir Zeichen und Symbole deuten können. Man denke zum Beispiel an Magrittes legendäre Arbeit „Das ist keine Pfeife“. Recht hat er, denn was wir sehen ist die Abbildung einer Pfeife. Übrigens verstehen nicht alle das Gleiche, wenn sie ein Zeichen wie das Emoji „Pfirsich“ sehen, oder? Das wird jedenfalls in diesem Kapitel der Ausstellung als Frage aufgeworfen.
Eduard Renggli, Kriegszug, ca. 1904–1914Öl auf Leinwand, 104 × 125 cm, Kunstmuseum Luzern, Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Bern
Beim Rundgang fällt unser Blick auf die Arbeit von James Coleman namens „Charon“. Es ist eine Dreifachdiaprojektion, die nach der Wirklichkeit und deren Abbildung fragt. Charon ist übrigens in der griechischen Mythologie der Fährmann, der die Verstorbenen über einen Fluss ins Totenreich geleitet. Und ist nicht die Fotografie als Momentaufnahmen, in gewisser Weise auch eine Art Tod, hält sie doch fest, was längst vergangen ist? Fotografie und Tod – das ist ein spannendes Thema, wirft es doch die Frage nach den Bildern angesichts des Todes auf und auch nach den Bildern der Nahtoderlebnisse. Lassen Sterbende wirklich Bilder des Lebens Revue passieren und welches ist das letzte Bild? Auch das darf man sich fragen. Gewiss ist, dass das letzte Bild eben nicht fotografisch erfasst werden kann. Es bleibt eine Momentaufnahme im Gehirn des Sterbenden. Mit ihm vergeht dieses letzte Bild. In all dem liegt auch ein anderes kunsthistorisches Kapitel verborgen, das Memento Mori, oder?
Anna Maria Babberger-Tobler, Ohne Titel (Frühling), ca. 1920–1930 Hinterglasmalerei hinterlegt mit Kupferpapier, 30.4 × 23.8 cm, Kunstmuseum Luzern, Depositum der Stiftung BEST Art Collection Luzern,
vormals Bernhard Eglin-Stiftung
Im gleichen Raum wie Coleman sind Arbeiten von Irene Ineichen zu sehen. Sie malte Landschaften mit scheinbar tanzenden Bäumen, mal mit und mal ohne dunklen See oder als Winteransicht. In einem der Gemälde sieht man drei Bäume, die den Blick des Betrachters auf einen violetten See verstellen. Zu sehen ist aber auch ein dunkelblaues Gewässer mit bewegter Wasserfläche, die von dunkelgrauen Baumstämmen eingerahmt ist. Menschenlos ist die dargestellte Natur, die leblos und skulptiert wirkt. Anschließend fällt unser Blick auf Felix Vallotton und sein Gemälde „ciel gris, ciel noir“ mit sehr dynamischen Wolkenlagen nebst Stadtsilhouette im Hintergrund. Fantasiewolkenbild oder Ergebnis empirischer Betrachtungen? Auch Ferdinand Hodler, einer der bekanntesten Maler der Schweiz ist in der Ausstellung zu sehen. „Der Tag III“ lautet der Gemäldetitel. Eingefroren in ihren Posen sieht man drei weibliche Akte, ob mit gefalteten Händen oder seitlich angewinkelten Armen. Und eine der drei Dargestellten bedeckt mit den Händen gar das Gesicht. Welche Symbolik vermittelt uns damit Hodler? Zeichnet der Künstler ein Bild paradiesischer Zustände? Auf alle Fälle unterliegt die Arbeit einer gewissen Symmetrie der Komposition. Die drei Dargestellten stehen für unterschiedliche Zeiten des Tages, so könnte man meinen.
Was vermittelt uns eigentlich der „Kriegszug“ von Eduard Renggli? Ist es pure Historienmalerei im Stil eines Wandfreskos? Man muss das unterstellen. Die stämmigen Männer erinnern an Darstellungen des Bauernaufstandes im Süden Deutschlands zu Zeiten von Ulrich von Hutten und Götz von Berlichingen. Unter dem Banner der Schwyz ziehen die Männer in die Schlacht. Ob es sich um die Schlacht am Morgarten oder bei Sempach in der Zentralschweiz handelt, muss mit einem Fragezeichen versehen bleiben. Und auch Ernst Schurtenberger widmet sich dem Thema Krieg, wenn auch in einer anderen Zeit verortet als bei Renggli.
Hans Schärer, Madonna 2, 1971, Mischtechnik auf Holz, 119.5 × 92.7cm, Kunstmuseum Luzern
Verfremdet hat Clemens von Wedemeyer seine Videoarbeit 70.001. Ja, da gibt es Anleihen an die Montagsdemos in Leipzig im Jahr 1989. Doch die Straßenszenerie ist nicht Leipzig. Zudem lässt der Künstler die Masse verschwimmen, zu animierten Kunstfiguren werden. Zu hören sind die Parolen von damals: „Wir wollen raus“ Freiheit! Freiheit.“ Geschaffen wurde das Werk aus Anlass des 30. Jahrestages des Mauerfalls. Dabei vermischen sich die Demonstranten, die auf die Straße gingen, mit animierten Klonen. Und auch die Straßenschluchten Leipzigs haben eine animierte Verfremdung erfahren. Hier stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit der Bilder, oder? Wie verschieben die Animationen und Collagen der Bilder das reale Geschehen, überhöhen es, verdichten es?
Historisch und kunsthistorisch interessant sind die Studien zum Bourbaki-Panorama. Das Bourbaki Panorama Luzern erinnert an die Internierung von 87’000 französischen Soldaten, die im Winter 1871 in der Schweiz Zuflucht finden. Dem Maler Edouard Castres ist das große Rundbild von 1881 zu verdanken. Unweit des Gletschergartens in Luzern und des Löwendenkmals ist dieses Rundbild in einem eigenen Bau zu bewundern. In der Sammlung des Kunstmuseums sind skizzierte Studien zu finden. Man sieht Frauen, die Proviant tragen, in Begleitung eines Kiepenträgers und Bernhardiners. Zudem entdeckt man auch einen Ambulanzwagen, sieht den Zug der Verwundeten, die zu Fuß unterwegs sind. Einige der Verwundeten liegen auf Tragen, andere im Schnee und flehen um Hilfe. Es muss ein dramatisches Ereignis gewesen sein, das sich das 1871 abgespielt hat. Die Opfer des Gemetzels bekommt man zu sehen. Doch wer waren die Täter? Solche Darstellungen stellen auch immer Fragen nach dem, was nicht dargestellt, aber mitzudenken ist.
Ben Vautier, Toile + peinture + idée + intention + écriture + style + lecture + prétention + ce qu’il y a autour + etc, 1972Öl auf Leinwand, 251 × 367 cm, Kunstmuseum Luzern
Zum Thema Psyche, also zum menschlichen Innenleben, zu Gefühlsregungen und seelischen Verfassungen finden wir beim Rundgang unter anderem eine Arbeit von Aldo Walker. Wir sehen eine auf den Kopf gestellte Frau. Macht sie Kopfstand aus freien Stücken? Stellt sie Rollen auf den Kopf und verweigert sich der klassischen Rolle der Frau? Zudem betrachten wir „Mit den Kindern und Tieren“ von Miriam Cahn, teilweise archaische Kreidezeichnungen, teilweise Kinderzeichnungen und Inschriften auf Toilettenwänden und Schultischen, oder?
Der Frage nach der Ikone bzw. dem Ikonischen, abseits von Heiligen- und Marienbildern, widmet sich die Ausstellung obendrein. Zugleich geht es aber auch um Ikonologie, um die Interpretation von Gesten und Haltungen in der bildenden Kunst. Ironisierend nahm André Thomkins die Heiligenverehrung auf und ließ auf einem Straßenschild „I am God“ prägen. Ganz in der Tradition der Heiligenverehrung steht Cornelius Engelbrechtsz mit seiner Anbetung Christi. Es handelt sich um das Altarbild eines Klappaltars, auf dem auch die Stifter verewigt sind. Im Mittelpunkt steht jedoch der Stall und die Ruinenarchitektur mit Jesus umgeben von anbetenden Hirten. Hans Schärer stellt seine ganz eigene Madonnendarstellung zur Diskussion: Gespenstisch wirkt sie mit ihren schwarzen Augenhöhlen, dem offenen Mund mit Zahnreihen und schwarzen Punkten auf der Wange. Man mag beim Anblick eher an eine Gothic-Anhängerin denken als an eine Madonna, oder? Doch auch der Gothic-Kult hat Anhänger, die sich als neue Ikonen verstehen.
Martin Moser, Das jüngste Gericht, 1557, Ölfarbe auf Holz, 138 × 237 cm, Kunstmuseum Luzern, Depositum des Historischen Vereins Zentralschweiz
Zeichen, das sind jedenfalls folgt man Ben Vautier, auch Lesart, Stil, Handschrift und Idee. Dieser Künstler ist mit einem entsprechenden „Wortbild“ in der Ausstellung vertreten. Man fragt sich, ob das nun Text oder Malerei ist. Schließlich sei auch auf mehrere Arbeiten von Aldo Walker verwiesen, die zwischen Skulptur und Installation anzusiedeln sind, darunter „Logotype VIII“. Mal sieht man bei diesem Künstler steinernen Mohn und eine in Stein eingelassene Uhr sowie einem „Messinglenkrad“, mal aber auch ein Ensemble aus einem Gestell und zahlreichen Kugeln aus Modelliermasse. Quo vadis?
Nachsatz: Beteiligte Künstler der Ausstellung
Judith Albert, Anna Maria Babberger-Tobler, Arnold Böcklin, Miriam Cahn, Edouard Castres, James Coleman, Anton Egloff, Cornelius Engelbrechtsz, Helmut Federle, Ferdinand Hodler, Irma Ineichen, Urs Lüthi, Martin Moser, Archiv Allan Porter, Eduard Renggli, Hans Schärer, Taryn Simon, André Thomkins, J.M.W. Turner, Felix Vallotton, Ben Vautier, Hannah Villiger, Aldo Walker, Clemens von Wedemeyer
© ferdinand dupuis-panther
Info
https://www.kunstmuseumluzern.ch/
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