Sakrallandschaft wie vor Jahrhunderten

Nachhaltiger Tourismus im Val Lumnezia

Text und Fotos: Ulrich Traub

Dieser Name verpflichtet: Val Lumnezia, Tal des Lichts. Obwohl der rätoromanische Begriff auf die ersten Siedler, die Lepontier, hinweist, ist das Attribut nicht nur ein griffiger Slogan, sondern trifft im Gegensatz zu vielen anderen vollmundigen touristischen Kopfgeburten tatsächlich zu.

Schweiz - Val Lumnezia

Im Tal des Lichts, das im Westen Graubündens bei Ilanz vom Rheintal in südlicher Richtung abknickt, liegen die Dörfer wie Sonnenanbeter hingestreckt auf Terrassen hoch über der Talsohle, wo das Flüsschen Glogn gluckert, und im respektvollen Abstand zum Gebirgskamm. Das Val Lumnezia ist ein offenes, stufig ansteigendes Tal mit mildem Sommerklima. Ein meist blauer Himmel lässt das Gebirgspanorama eindrucksvoll zur Geltung kommen. Und der Wanderer freut sich über ungetrübte Weitblicke in dieses Tal, dem nichts Bedrohliches anhaftet.

Schweiz - Blick auf Lumbrein

Blick auf Lumbrein

Doch diese Gegebenheiten prägen nicht allein den besonderen Reiz des stillen Val Lumnezia, das keinen Durchgangsverkehr kennt. Seit rund 15 Jahren setzen sich die Gemeinden der Talschaft in seltener Einmütigkeit für nachhaltiges Wirtschaften und sanften Tourismus ein. Dieses Engagement hat dazu geführt, dass der Urlauber heute ein Tal vorfindet, das sich ihm nicht mit allen erdenklichen Angeboten andient, sondern ausgehend von den Lebensgrundlagen der knapp 4.000 Bewohner entwickelt wurde – wozu auch der Tourismus gehört.

Privatunterkünfte und Ausbau des Bussystems etwa statt Hotelkomplexe und Schnellstraßen, die massiv in die Natur eingreifen. Auf diese Weise konnte das Bild der so genannten Sakrallandschaft, das seit Jahrhunderten schon von den ungewöhnlich vielen Kirchen und Kapellen gezeichnet wird, überleben. Die 32 Glockentürme recken sich heute wie Orientierungspunkte für die Wanderer in den Himmel. Konkurrenz erwächst ihnen nur durch den wehrhaften Wohnturm in Lumbrein, ein Hochhaus des Mittelalters.

Schweiz - Wohnturm in Lumbrein

Wohnturm in Lumbrein

Die Anlage der Orte dieses freundlichen und zugänglichen Tals ist weitgehend unverändert geblieben. Häuser und Höfe aus dem 18. und 19. Jahrhundert stehen meist eng beisammen. Landwirtschaft spielt immer noch eine wichtige Rolle, daher wird die Vermarktung von lokalen Produkten in den Dorfläden betrieben. Statt Souvenirshops gibt es hier noch den Bäcker und den Fleischer. Die Landflucht vergangener Jahrzehnte konnte gestoppt werden.

Nach 25 Kilometern endet die schmale und kurvige Straße durch das Tal in Vrin, dessen Campanile schon den Süden ahnen lässt. Der Ort ist Ausgangspunkt für Wanderungen in die Hochebene Greina und neuerdings Ziel architekturinteressierter Urlauber. Preisgekrönt wurde das Bauerndorf für sein intaktes Ortsbild und nachhaltiges Bauen. Neben dunklen, meist blumengeschmückten Holzhäusern fallen die hellen Gebäude ins Auge, die der einheimische Architekt Gion A. Caminada als moderne Interpretation traditioneller Bauweise geschaffen hat.

„Architektur soll das Relief der Natur betonen“, erklärt er. Balkone mit Geranienkästen seien da verzichtbar. Lieber plane Caminada, Professor in Zürich, aber Bergler aus Überzeugung, große Fensterfronten mit verschiebbaren Scheiben. Schließlich lebt er ja im Tal des Lichts. Nicht Tradition sei die Richtschnur für seine auf Ornamentales verzichtende, puristische Holzbauweise, sondern die Lebensumstände. So hat Caminada Vrin eine Vielzahl von interessanten Gebäuden geschenkt – von der Mehrzweckhalle bis zur Totenstube, in der die Hinterbliebenen das Trauerritual vollziehen können.

Schweiz - Holzhaus in Vrin

Haus in Vrin

Um über das Dorfleben hinaus etwas vom Val Lumnezia zu verstehen, sollte man in die Greina wandern, jene einsame und schier grenzenlose Hochgebirgslandschaft mit ihren vielen Gesichtern, die wie geschaffen ist für das Entstehen von mysteriösen Erzählungen. Dieser urtümliche, ganz unschweizerische Naturraum, wo Erdgeschichte spürbar wird, sollte in den 80er-Jahren in einen See zur Wasserkraftnutzung verwandelt werden. Doch regte sich Widerstand gegen diesen Naturfrevel. Das Unterfangen wurde schließlich aufgegeben und Vrin eine jährliche Entschädigung zugestanden. Als Gegenleistung garantiert die Gemeinde die Aufrechterhaltung des natürlichen Zustands.

Es sollte nicht der einzige Erfolg der Naturschützer bleiben. Auch ein umfangreiches Neubauprojekt für eine Hotelanlage in exponierter Lage wurde verhindert. Seit einigen Jahren lockt an dieser Stelle nun ein See, den man durch ein ausgehobenes und mit natürlichen Materialien abgedichtetes Flachmoor gewonnen hat: Badefreuden vor spektakulärer Kulisse auf 1.300 Meter.

Schwarz - Graubünden

Nach Wanderungen auf Panoramawegen, über bewirtschaftete Hänge, blühende Wiesen und stille Wälder oder über den Kulturweg, der mit der Historie dieses besonderen Tals vertraut macht, wird man gegen eine kräftigende Mahlzeit nichts einzuwenden haben. Gut zu wissen, dass hier regionale Gerichte mit lokalen Zutaten auf den Tisch kommen. Wie wär’s mit Capuns, einer Teigspezialität gefüllt mit Schinken, scharfer Wurst und feinen Kräutern. Das Ganze wird in Gelbmangold eingewickelt und mit Rahm und Butter abgerundet. Bien Appetit, wie der Rätoromane zu sagen pflegt.

Reiseinformationen zum Val Lumnezia

Touristische Informationen

Schweiz Tourismus: 00800-100-200-30, gebührenfrei; www.MySwitzerland.com

Lumnezia Turissem, Casti de Mont, CH-7144 Vella, 0041/81/931-1858; www.vallumnezia.ch

TIPP: Besuch im Kurort Vals im benachbarten Valsertal mit schönem Thermalbad des Architekten Peter Zumthor.

 

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