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Nur nicht weinen, mein Freund!

In den Llanos von Venezuela

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

Venezuela - Cowboyleben auf der Fundacion El Ceibote

Als wären sie geradewegs einem mexikanischen Western entsprungen, biegen die Reiter um die Ecke und traben langsam heran. Ein nasses, ganz schön dreckiges Dutzend Männer kehrt zurück von der Arbeit, den Hut tief in der Stirn, die Ponchos schwer vom Regen, Sporen und Gummistiefel lehmverklebt.

Venezuela - Cowboy mit Lasso

Verhalten grüßen verbrannte Gesichter. Manche bleiben verschlossen, einige lächeln breit. Über 30 knochige Jungrinder haben sie heute Morgen in den Ebenen der Llanos zusammengetrieben und auf Lastwagen verladen. Jetzt ist es Zeit fürs Mittagessen. Die Köchin auf der Fundacion El Ceibote, dem äußersten Außenposten der Ranch El Frio, stellt geschmortes Rind auf den Tisch. Dazu gibt es Reis, Maisbrot, Bohnen, und eine strenge Ajicero-Soße aus vergorener Kuhmilch mit Chili und Knoblauch. Wenn die Fleischbrocken gar zu sehnig sind, säbelt sich der eine oder andere mit der Machete am Mund ein Stück ab, und dass die beiden Fremden heute mit am Tisch sitzen, stört dabei nicht weiter. Tuco hat sie mitgebracht, der kümmert sich auf der Ranch um Touristen, und wenn die beiden, statt sich die Augen auf der Suche nach Jaguar und Ameisenbär aus dem Kopf zu starren, eben lieber im Matsch des Hofes herumstaksen und zusehen wollen, wie man Pferde einfängt und die schweren Lederlassos trocknet und das am Vortag geborene Kalb aus dem Busch holt - bitte sehr.

Venezuela - Angel mit Kalb
Angel mit Kalb

Don Rafael, der seit 70 Jahren auf der Fundacion lebt und 15 Kinder gezeugt hat, hat ihnen bereits einiges erzählt: Von den großen Viehtrecks vor 50 Jahren etwa, als die Männer Herden von 300 Rindern drei, vier Wochen lang bis Tinaco, Apure oder gar Valencia trieben, und von seinem einzigen Besuch in Caracas auch, als ihm ein Licht aufging: "Großstadt und Llanero - das passt einfach nicht zusammen". Angel, mit seinen 22 Jahren einer der jüngsten Reiter, hat das auch schon kapiert: "Am Wochenende mache ich gern mal in der Stadt einen drauf. Aber leben könnte ich dort nie - ich brauche mein Pferd um mich, die Arbeit mit meinen Freunden, das weite Land."

Venezuela - Llanos - Don Rafael
Don Rafael

Die Llanos - das sind die schier endlosen Ebenen Venezuelas, die von den Anden im Westen bis zum Orinoco im Osten, von der Küstenkordillere im Norden bis Kolumbien im Süden reichen und mit rund 300 000 qkm fast ein Drittel der Fläche des Landes einnehmen: Eine Abfolge von sumpfigen Schilfgürteln, Grassavanne und offenen Wasserflächen, aus denen in der Ferne Baumgruppen ragen wie die Halligen aus dem Meer. Während der Regenzeit von Mai bis November steigt das Wasser, das Land saugt sich voll und versumpft, ab Dezember fällt es wieder trocken. Dieser jährliche Wechsel und die Kargheit des Bodens, der nur zur Viehzucht taugt, sind sein bester Schutz, und so haben in den unzugänglichen Weiten zahlreiche Wildtiere eine Rückzugsmöglichkeit gefunden - was das Gebiet für Touristen interessant macht. Einige Rinderranches, Hatos genannt, haben sich darauf eingestellt und bieten Kurzaufenthalte an. Der Hato El Frio war einer der ersten. 42 km die Straße entlang, 13 km nach rechts, 25 nach links - das alles ist El-Frio-Land. El Frio - Schüttelfrost wurde die Ranch genannt, nach der Malaria, für die der Flecken einst berüchtigt war. Rund hundert Männer, Frauen und Kinder leben heute hier.

Venezuela - Llanos

1974 überredete der spanische Biologe Castro Viejo die Besitzerfamilie Maldonado, auf ihrem Land sein Projekt zu unterstützen: Die Wiederansiedlung des Orinoco-Krokodils. Das Reptil galt als beinahe ausgestorben - in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte man sechs Millionen von ihnen getötet, ihrer Haut wegen. Während der letzten drei Jahrzehnte aber haben die Biologen und ihre Helfer Tausende von Krokodileiern gesammelt und unter Wärmelampen ausgebrütet, haben 2700 Exemplare bis zu einer Größe von 80 Zentimetern herangezogen und freigelassen. Zwischen 200 und 300 von ihnen, schätzt Julio Garcia, der touristische Leiter der Station, dürften noch am Leben sein. Neuerdings befasst man sich auch mit der Aufzucht von Schildkröten: 186 verließen schon die Station Richtung ungewohnter Freiheit.

Venezuela - Köchin Mariella im Hato El Frio
Köchin Mariella im Hato El Frio

Nach und nach entwickelte sich aus dem biologischen Projekt auf der Ranch auch eine eigenständige touristische Abteilung. 20 Besucher finden heute in zehn einfachen Zimmern Platz, Köchin Mariella serviert Brathähnchen, gebackene Bananen und Rindfleischstreifen mit Guacamole, im Gemeinschaftspavillon finden sich eine kleine Bibliothek und ein Aquarium mit Piranhas und Welsen.

Die Regenzeit hat eben begonnen und stimmt mit einer gekonnten Ouvertüre auf das Programm der kommenden Monate ein. Es prasselt, plattert, schüttet heftigst, der rote Staub, der sich sonst über alles legt, ist zu Matsch geworden, der genauso seinen Weg in die Häuser findet.

Venezuela - Oropendula-Nester
Oropendula-Nester

Zentimeter um Zentimeter tastet sich der Jeep über die schmierseifige Piste, in die das Wasser gurgelnd Rinnen spült. Auf den Wiesen links und rechts aber herrscht reger ornithologischer Verkehr. Ibisse sicheln, Störche staksen, ein Milan zieht vorbei, im Schnabel eine sich windende Schlange. Oropendulas haben ihre Kugelnetze mitten hinein in den Überfluss gewebt, ins Astwerk der reich tragenden Jobo-Bäume, grünschillernde Papagien kreischen im Vorüberflug. Jenes ferne Grollen aber, das sich bald steigert zum markerschütternden Kampfgeschrei urzeitlicher Horden, erweist sich als nichts anderes als eine gepflegte Unterhaltung unter Brüllaffen.

Während der Regenzeit haben die Tiere es nicht mehr nötig, sich um ein paar wenige Wasserstellen zu scharen. Entsprechend schwierig sind sie auszumachen. Immerhin zeichnet sich manchmal die Schnauze oder der Umriss eines Krokodils im Wasser ab, oder es schiebt sich ein zottiger Kopf aus den blassblauen Hyazinthen: Capybaras, Wasserschweine, bis zu einem Meter lang und überdimensionierten Hamstern nicht unähnlich, stapfen prustend an Land.

Venezuela - Wasserschweine
Capybaras - Wasserschweine

Auf der Rückfahrt in der Dunkelheit ist die ganze sumpfige Welt in Aufruhr und knarrt und schnarrt und trötet vor sich hin. Ziegenmelker, die sich bestens getarnt wähnen, flattern im letzten Moment von der Fahrbahn. Eine Herde Wildesel zieht über die Straße, ein Hoatzin flattert plötzlich verwirrt im Lichtkegel auf die Ladefläche des Jeeps. Dem Vogel mit dem blauen Gesicht und der schwarzen Haube wird eine nahe Verwandtschaft zum Urvogel Archaeopteryx nachgesagt: Die Jungvögel haben Krallen an den Enden der Flügel, mit denen sie Bäume erklettern, wenn die Sache mit dem Fliegen noch nicht so klappt.

Venezuela - Auf dem Rio Apure
Auf dem Rio Apure

Anderntags führt ein Bootsausflug den kleinen Farmfluss hinauf zur Mündung in den Rio Apurè. Zunächst erstaunt, was alles fehlt: Plastiktüten, Öldosen, Shampooflaschen - der ruhige Wasserlauf liegt menschenleer und jungfräulich sauber inmitten der Galeriewälder zu beiden Seiten. Graureiher starten beim Näherkommen ungelenk aus dem Geäst, Silberreiher stehen in regelmäßigen Abständen regungslos am Ufer wie die weißen Ausrufezeichen der Llanos. Tuco klopft mehrmals ans Boot, und irgendwann erhält er Antwort: Gemütlich prustend brechen beige-rosa Walzen aus dem Wasser, wälzen sich glänzend herum oder tauchen spielerisch nah am Boot vorbei, bevorzugt dort, wohin die Kameras nicht gerichtet sind: Rosa Flussdelfine im freiwilligen tourismusfördernden Einsatz.

Venezuela - Leguan
Leguan

Aber auch für den Fall, dass so gar kein Vertreter der Fauna sich draußen zeigen will, ist vorgesorgt: Über die Rasenflächen des Hato tapsen grüne Leguane. Als einer verendet, beginnen die Geier direkt hinterm Küchenfenster, ihn zu zerlegen. Im Teich hinterm Maschendrahtzaun leben, je 4 m lang und 400 Kilo schwer, die Krokodile Joselo und Hortensia. Die beiden wurden auf einer Ranch in der Nähe großgezogen, erhielten dort aber zu kalziumarme Nahrung. Was dazu führte, dass sie heute wohl die einzigen Orinoco-Krokodil sind, die ihr Dasein ganz ohne Zähne fristen.

Venezuela - Krokodil - Joselo, der Zahnlose
Joselo, der Zahnlose

Tourismus und Ranchbetrieb sind klar getrennt. Manchmal aber stoßen die Cowboys im Gelände zufällig auf eine Anakonda und bringen sie mit nachhause - zur Ansicht für die Touristen natürlich, aber auch als Anschauungsmaterial für die Kinder der rancheigenen Schule: Gefahr steckt nicht nur in der gewaltigen Muskelkraft der Schlange, sondern auch in ihrem Biss: Zwar ist sie nicht giftig, aber oft bleiben ihre Zähne in der Wunde stecken und verursachen langwierige Infektionen.

Venezuela - Anakonda zur Anschauung
Anakonda zur Anschauung

Bloß nicht weinen, heißt es dann - no hay que llorar. "No hay que llorar, amigo", so tröstet singend auch Luis Cidràn am letzten Abend seinen Hengst - und die Zuhörer. Musik ist zu Gast im Hato, noch bricht die Stimme des jungen Sängers fast im Falsett, und seine Bewegungen sind ungelenk: Die große, die herzzerreißende Geste will noch nicht so ganz von der Hand gehen. Ramon Garcia an der Harfe ist der Kopf der Gruppe, sein Sohn Josè rasselt mit den Maracas, Jesùs Trejo, der Tischler, der die Harfe gebaut hat, spielt Quatro, vierseitige Gitarre. Mindestens so bekannt wie für ihre Rinder sind die Llanos für die Lieder und die Sängerwettkämpfe, die bei Festen ausgetragen werden. Immer geht es dabei um das Leben auf dem Land, die harte Arbeit zu Pferde, und, versteht sich, um die Tragik der Liebe: Es gibt keinen Grund zu weinen, mein Freund - auch wenn sie dir die Stute weggenommen haben, und mir die Geliebte davongelaufen ist. Ziehen wir weiter, da gibt es noch viele Pferde, da warten so viele schöne Frauen - Hauptsache wir bleiben zusammen... Und könnten Angel und Don Fernando und die Männer jetzt zuhören, würden sie schwören, dies sei die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, eine der tiefsten Wahrheiten über die Llanos und ihre Bewohner überhaupt. Immer schon und auch heute noch.

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