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Leben – über den Tod hinaus

Abend für Abend sitzt Kogito in seiner Bibliothek und lauscht dem „Schildkäfer“, japanisch tagame. Doch beobachtet der alte Mann nicht ein Insekt, sondern die Spulen eines Diktiergerätes mit Kopfhörern. Sein Freund aus Schulzeiten und späterer Schwager Goro hat es ihm geschickt, und als Kogito mit dem Abspielen begann, erinnerte er sich an seine Kindheit, als er noch außerhalb der Stadt in einem Haus im Wald lebte, durch den ein Bergbach strömte, in dem er Käfer fing. „Als er sie [die Kopfhörer] zum ersten Mal aufsetzte, hatte er das Gefühl, als klemme er sich einen dieser völlig nutzlosen Käfer beidseitig an den Kopf.“

Der Filmregisseur und -historiker Goro hatte ihm den „Schildkäfer“ sowie fünfzig Kassetten zukommen lassen und sich dann vom Dach eines Hochhauses gestürzt. Indem er die Bänder besprach, brachte er sein Leben in Ordnung, um sich anschließend „geordnet“ daraus zu verabschieden. Was blieb, waren Erinnerungen, festgehalten auf Band und mit Kogito jenem Menschen übermittelt, der diese am besten verstehen konnte, weil er der älteste Freund war. Kogito wiederum beschäftigt sich daraufhin Nacht für Nacht damit, denkt über seinen eigenen Tod nach und lässt das gemeinsame Leben mit Goro Revue passieren.
Unterbrochen und gleichzeitig gefördert wird dieser Prozess durch eine Reise des Schriftstellers Kogito nach Berlin, wohin er vom Berliner Wissenschaftskolleg eingeladen worden war und wo er Vorträge über die japanische Kultur zu halten hatte. Auch hier wird die Vergangenheit wieder lebendig: Deutschland war im Zweiten Weltkrieg Japans Kriegsverbündeter, und Fragen der „Schuld“ stellen sich im Osten wie im Westen. Zum anderen gab es in Goros und Kogitos Vergangenheit „diese Sache“, ein Ereignis, das zunächst im Dunkeln bleibt, aber offensichtlich großen Einfluss auf das Leben der beiden Jugendlichen besaß.

Für Kogito ist der Blick voraus („Was passiert nach meinem Tod? Bleibe ich in meinen Büchern präsent?“) auch immer ein Blick zurück. Und so enthüllt sich „diese Sache“, indem Kogito Goros Ausführungen auf dem „Schildkäfer“ lauscht, seine eigenen Erinnerungen und Kommentare damit kontrastiert und von der Vergangenheit erzählt. „Diese Sache“ hat mit dem Besatzungsregime der USA zu tun, mit pubertären Abenteuern und Kraftmeiereien, mit überraschenden sexuellen Erfahrungen. Mehr sei hier nicht verraten.

Der japanische Nobelpreisträger Kenzaburo Oe hat erneut ein sehr persönliches und über Strecken autobiographisches Buch vorgelegt (Kogito ist Schriftsteller und lebt einige Monate in Berlin, wie Oe, er hat einen behinderten Sohn, der Musik komponiert, wie Oe, und anderes). Ein Alterswerk, das Probleme des Lebens in der Jugend wie im Alter reflektiert und immer wieder fragt, was bleibt. Ein Buch über Freundschaft, Vertrauen und die Möglichkeit, Gedanken auszutauschen. Und ein Buch, das den Alltag eines alten Intellektuellen in Tokyo mit dem in Berlin vergleicht. Interessant.

fjk@saw

Kenzaburo Oe: Tagame. Berlin – Tokyo. Verlag Fischer TB 2007. ISBN 978-3-596-15627-6. 9,95 Euro.

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