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Die Wohlgesinnten

Kaum ein Buch hat in den letzten Jahren in Deutschland schon vor seinem Erscheinen so sehr die Gemüter und Feuilletons bewegt wie Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten". Das Buch, das mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet wurde und von dem in Frankreich bis dato mehr als 800.000 Exemplare über den Ladentisch gingen, löst heftige Debatten über die Darstellung des Holocaust aus.

Die Wohngesinnten

"Die Wohlgesinnten" ist nicht irgendein Buch über den Holocaust, sondern es ist ein Roman aus der Täterperspektive. Der Autor Jonathan Littell ist ein vierzigjähriger Jude, ein Nachgeborener mit amerikanisch-lettischen Wurzeln, der die fiktiven Lebenserinnerungen des SS-Obersturmführers Maximilian Aue geschrieben hat. Aue ist einer jener Täter, die sich für ihr Handeln nicht verantworten mussten. Als achtzigjähriger Fabrikant will er Zeugnis ablegen, ohne sich für das Geschehene zu rechtfertigen.
Auf fast 1400 Seiten breitet Jonathan Littell eine Monumentalisierung des Grauens aus, die er entlang der Biographie des Maximilian Aue entwickelt. Dieser ist ein promovierter Jurist, und so belesen wie narzistisch.

Littell provoziert, überschreitet die Grenzen und bedient Klischees, wie das vom schwulen Nazi: "Noch den Arsch voller Sperma, entschloss ich mich dem Sicherheitsdienst beizutreten." Aue ist aber nicht nur homosexuell, sondern er ist auch seiner Zwillingsschwester Una in einer geradezu inzestuösen Weise verbunden. Seine Erinnerungen sind gespickt mit pornographischen (Gewalt-) Phantasien, immer wieder leuchten Bezüge zu Bataille und Genet auf, doch meist changiert Littell nur zwischen Gemeinplätzen und Schwulst.

Littell schickt seinen SS-Obersturmbannführer an die Brennpunkte der Zweiten Weltkrieges; er ist an den ersten Massenexekutionen in der Ukraine und im Kaukasus beteiligt, er gehört zu den letzten, die aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen werden, er steht in Auschwitz vor den Gaskammern, er ist im besetzten Paris und im zerstörten Berlin – überall dort, wo sich die Schrecken und Gräuel des Krieges mit geballter Wucht offenbaren, ist auch Maximilian Aue zu finden. Er wird sogar in den persönlichen Stab von Heinrich Himmler aufgenommen, Eichmann und Speer treten auf und zum Schluss folgt der Leser Maximilian Aue in Hitlers Bunker.

Keine Frage, Littell hat ein intensives Quellenstudium betrieben, er kennt die Literatur über den Holocaust und den Nationalsozialismus bis ins kleinste Detail, seine Schilderungen über die Abläufe der Vernichtungsmaschinerie sind von einer unerhörten Präzision.
Getrieben von einer morbiden Faszination lotet Littell die Motive der Täter aus und diskutiert die Vorzüge von Kopf- oder Genickschuss. Seitenweise berichtet er von Exekutionen, lässt die Gehirnmasse aus zerschossenen Schädeln quellen, Säuglinge gegen Wände schmettern und Gehenkte ejakulieren, wobei sein Obersturmbannführer gelegentlich auch von kurzen Momenten der Anteilsnahme heimgesucht wird.

Aue ist Teil einer totalitären Maschinerie, in der er sich aufgehoben und ideologisch heimisch fühlt. Des Führers Wunsch ist sein Befehl. Für Aue ist der Völkermord ein rituelles Opfer: Es schweißt die Täter zusammen, und hindert sie, jemals wieder dahinter zurückzukehren. Reue kennt er nicht. Littell entfaltet eine Formensprache des Grauens, die an billige Horrorfilme erinnert und mehr abstumpft als aufrüttelt.
So weit, so gut. Aber Littell ergeht sich in Stereotypen, die sich über Dutzende von Seiten erstrecken, den Leser schnell ermüden, obwohl dies wahrscheinlich gewollt ist, denn Littell will den Bürokratismus und Organisationswahn der Vernichtungsmaschinerie in seiner ganzen Breite abbilden. Es gibt kein Detail, an das sich Aue nicht erinnern kann, er hat scheinbar nichts verdrängt, nichts vergessen, jedes Geschehen ist ihm so präsent, als sei es gestern passiert.

"Die Wohlgesinnten" ist ein überaus ambitionierter Versuch, den Holocaust darzustellen, doch bleiben Zweifel, ob die ausführlichen Beschreibungen von Unmenschlichkeit, Sadismus und sexuellen Perversionen zum Verständnis des Holocaust beitragen können. Die Mentalität der Täter bleibt unter der SS-Uniform des Schöngeistes verborgen. In den Berichten der Überlebenden und in den Arbeiten von Historikern wie Christopher Browning oder Saul Friedländer hat man vieles schon eindringlicher und ausführlicher gelesen. Um hohe Literatur handelt es sich bei den "Wohlgesinnten" nicht – da kann Jonathan Littell noch so viel Blut und Sperma fließen lassen.

ran@saw

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. ISBN 3833306289. Berlin Verlag. 18,00 Euro.

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