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Koloniale Unterwerfung

Chinas großer ZugNachdem der britische Kolonialadministrator Francis Younghusband bei seinem Vormarsch auf Lhasa ein Blutbad hatte anrichten lassen, gab er zu Protokoll: „Alle diese Probleme sind entstanden, weil man zu den Tibetern so schwer Zugang bekommt, weil sie derart abgesondert von der Welt leben. Und ich war jetzt einfach fest entschlossen, mir Zugang zu ihnen zu verschaffen, in ihre Abgeschiedenheit einzubrechen.“

Nachdem Tibet sich im Zuge des Zusammenbruchs der chinesischen Monarchie für unabhängig erklärt hatte, dachte der angebliche Revolutionär Mao Zedong wohl ähnlich, und kurz nachdem die Kommunistische Partei 1949 an die Macht gekommen war, marschierten chinesische Truppen in die „Abgeschiedenheit“ Tibets ein, richteten ein Blutbad an und nahmen das Himalajaland unter Kolonialverwaltung. Sie berufen sich dabei auf die Heirat einer Prinzessin aus der Tang-Dynastie (6.–9. Jh.), als der ausbeuterische tibetische Adel sich mit dem ausbeuterischen han-chinesischen Adel verbündete. Feudalismus scheint weiterhin die vorherrschende Ideologie in der KP Chinas zu sein.

Doch die imperiale Ausdehnung des „Lebensraums“ der Han-Chinesen ist nichts Neues. Vor 2000 Jahren machte sich Qin Shihuangdi zum ersten Kaiser eines China, das weniger als ein Viertel der heutigen Landfläche umfasste. In immer neuen Kriegszügen breiteten sich die Chinesen vor allem nach Süden aus, wirkten tausend Jahre als Kolonialmacht in Vietnam und verdrängten südlich des Yangzi und in den Bergen des Himalaja lebende Völker oder zwangen sie gewaltsam, sich der chinesischen Kultur zu unterwerfen. Zahllose Kulturen wurden dabei vernichtet, so wie die Han-Chinesen jetzt gerade die tibetische Kultur vernichten.

Wie der amerikanische Journalist Abrahm Lustgarten in seinem über rund fünf Jahre recherchierten Buch belegt, ist die Tibetbahn ein wesentliches strategisches Element für die aggressive chinesische Expansionspolitik. Sie sollte von Anfang an zwei Zielen dienen: Truppen schneller in den Himalaja transportieren zu können, um sie gegen Indien und zur weiteren Infiltration von Nepal in Stellung zu bringen, und zum Abtransport von Bodenschätzen aus Tibet nach China.

Der Autor hat durchaus Respekt vor der technischen Leistung des Bahnbaus in großer Höhe, unwegsamem Gelände und über (vielleicht jetzt tauendem) Permafrost. Er belegt aber durch Interviews mit Wissenschaftlern, Planern und Ingenieuren auch das jahrelange chaotische Lavieren zwischen Wissenschaft und Politik, das für das heutige China so typisch ist. Er belegt die Arbeitsbedingungen beim Bahnbau, der durch zigtausende Wanderarbeiter vorangetrieben wurde, natürlich fast nur Chinesen, da nur wenige Tibeter Mandarin sprechen und man ihnen grundlegend misstraut. Für dieselbe harte körperliche Arbeit erhielten Chinesen umgerechnet 4 € am Tag, Tibeter 1,60 €. Wie beim Megadamm am Yangzi wurden tausende Menschen umgesiedelt; sie verloren ihre Häuser und Weidegründe, erhielten – meist nach monatelangem Streit – eine kleine Abfindung, mit der sie nicht einmal eine Wohnung in den chinesischen Primitivsiedlungen kaufen konnten.

Das Buch ist voll von Beispielen des alltäglichen Terrors der Besatzungsmacht gegen die Tibeter. In Exkursen geht Lustgarten auch auf andere Entwicklungen ein, etwa die Bildungssituation, die dazu führt, dass junge Tibeter weder richtig Tibetisch noch richtig Mandarin können, und so den zu Tausenden anrückenden chinesischen Siedlern unterlegen sind. Auch in der Verwaltung werden bis auf ein paar linientreue Tibeter nur Chinesen beschäftigt. Alles Steinchen im Mosaik der Kulturvernichtung.

Die Bahn transportiert auch zahllose Touristen (vor allem chinesische) auf das „Dach der Welt“. Als westlicher Reisender kommt man dabei in den Genuss besonderer Aufmerksamkeit. Als Lustgarten sich mit einigen Passagieren unterhalten will, kommt die Schaffnerin angerauscht und sagt: „Ausländer dürfen im Zug nach Lhasa nicht mit den Leuten reden. Das ist verboten!“ Und als er sich Notizen macht, eilt ein anderer Schaffner herbei, ordnet an: „Schreiben Sie nichts, solange Sie mit dem Zug unterwegs sind!“ und bleibt stehen, bis Lustgarten sein Notizbuch weggesteckt hat. Na dann, gute Reise.

fjk@saw

Abrahm Lustgarten: Chinas großer Zug: Die Eroberung Tibets durch die höchste Eisenbahn der Welt. Scherz Verlag 2008. ISBN 978-3-502-15124-1. 19,90 Euro.

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