Mittelalter pur

Ein Besuch in Erfurt

Text und Fotos: Angelika Wilke

Verwinkelte Gassen, kleine Brücken und Plätze mit gemütlichen Cafés – alles wirkt neu und fröhlich. In Erfurts Stadtkern spaziert man zwar durch pures Mittelalter, stolpert dabei allerdings weder über schiefes Kopfsteinpflaster noch müffeln die Jahrhunderte feucht aus alten Mauern. Mit dezentem Summen schlängeln sich Straßenbahnen durch die Marktstraße, über den Fischmarkt und durch die Schlösserstraße, vorbei an einer farbenfrohen historischen Kulisse. Genauso gut könnte es aber eine Kutsche sein, die um die Kurve rattert. Und würden statt der Leute mit Einkaufstüten Herrschaften mit Zylindern und weiten Reifröcken an den Schaufenstern entlang promenieren, passten sie ebenfalls hierher.

Erfurt - Fischmarkt

Fischmarkt

Stadtführer in der thüringischen Landeshauptstadt haben inzwischen viermal so viel zu tun wie vor zehn Jahren: Es spricht sich zunehmend herum, dass der alte Bischofssitz an der Gera nach über 1260 Jahren wechselvoller Geschichte mit einem der größten und am besten erhaltenen mittelalterlichen Stadtkerne Deutschlands aufwartet.

Erfurt - Bratwurst am Markttag

Bratwurst am Markttag

Hier, wo sogar die Bratwurst als regionale Spezialität einen Stammbaum von 600 Jahren aufweist, sind die Einwohner daran gewöhnt, ständig in mittelalterliche Fußstapfen zu treten – auf modernen Komfort will deshalb niemand verzichten. So gibt es für Autos zwar ein Parkhaus im Zentrum, aber es ist versteckt im Herzen des Petersberges, eines Hügels, auf dem sich eine Zitadelle erhebt. Der Domplatz gleich nebenan bleibt autofrei. Eine 70-stufige Freitreppe schwingt sich am Ende des Platzes empor – zwar nicht bis in den Himmel, aber immerhin bis zum Dom St. Marien und zur Severikirche mit ihren drei Helmtürmen. Imposant und mit vielen Zacken, Bögen und Spitzen thronen diese Zwei über den Häusern der Altstadt. Dass es auf dem weitläufigen Platz bis zum Fuß der Treppe ein Stückchen zu gehen ist, betont noch ihre Erhabenheit.

Erfurt - Severikirche

Severikirche

Eine Stadt zum Wohlfühlen

Aber das Majestätische, Beeindruckende ist eigentlich nicht Erfurts Stil. Neben Geschichtsträchtigkeit verbinden Besucher geselliges Treiben und Sich-Wohlfühlen mit der Stadt, deren Bewohnern sogar eine ausgeprägte Feierlaune nachgesagt wird. Wer wochentags abends durchs Zentrum flaniert, glaubt das sofort. Denn die Suche nach zwei freien Kneipenstühlen kann ein bisschen dauern, trotz der zahlreichen Restaurants, die nach der Wende wie Pilze aus dem Boden schossen, zusammen mit nostalgischen Kulturcafés und Kneipen mit heimeligem Flair, wie zum Beispiel der „Frommen Helene“, wo die Gäste ihren Wein unter einem - selbstverständlich mittelalterlichen – Tonnengewölbe trinken.

Erfurt - Fünf-Sinne-Allegorie am Haus Zum Breiten Herd

Fünf-Sinne-Allegorie am Haus Zum Breiten Herd

Auch wenn es der bunten, lebendigen Stadt nicht anzumerken ist - in zwölfeinhalb Jahrhunderten kann natürlich nicht alles gut gehen. So verlor Erfurt trotz horrend teuer erkaufter Schutzbriefe im Dreißigjährigen Krieg ein Drittel seiner Bevölkerung, musste sich später die Besetzung durch Napoleons Truppen gefallen lassen und wurde noch kurz vor Ende des letzten Krieges Opfer eines heftigen Bombenangriffs – vom Collegium maius der Universität blieb danach quasi nur noch das gotische Kielbogenportal übrig.

Es galt zu DDR-Zeiten als akademisches Wahrzeichen, erzählt Wolfgang Pohl. Beim Bummel mit dem gebürtigen Erfurter von den Gassen um Wenige- und Fischmarkt hinauf zur Zitadelle wird eines klar: Erfurt ist nicht nur eine Stadt der Geschichte, sondern auch der Geschichten. Nur, wer wie der gelernte Instrumentenschleifer sein Leben hier verbringt, hat eine Chance, zumindest die meisten zu kennen. Wie die Geschichte von den kreisrunden Löchern, die einem von etlichen Türportalen herab zuplinkern: Früher steckten Strohbüschel in den Öffnungen, zum Zeichen, dass Brautag im Haus war und hier frisches Bier gekauft werden konnte.

Erfurt - Dom St. Marien

Dom St. Marien

Erfurter Geschichten

Oder: Was für ein Wein wächst am Petersberg? Antwort: „Affenschweiß“. So heißt er tatsächlich, der hiesige Wein, für den die Rebstöcke zusammen mit 398 weiteren am etwas nördlich gelegenen Roten Berg die Trauben liefern – in nassen Sommern füllen sie schon mal nur 120 Flaschen. „Dieser Wein wird weder verkauft noch verschenkt“, schmunzelt Wolfgang Pohl, „sondern nur an hohe Gäste und verdiente Bürger verliehen.“

Auf jeden Fall bekommen Neulinge die Geschichte vom „Paganini“, erzählt. Das italienische Restaurant am Fischmarkt brannte 2008 aus. „Da hatte die Mafia ihre Finger im Spiel“, meinen viele. Schon für die Stadtsanierung in den 90er Jahren soll Geld aus dieser Richtung geflossen sein. Gucken die Erfurter etwa zu viele Krimis? Wohl kaum. Wie in Leipzig und Dresden knüpft die kalabrische Ndrangheta auch in Erfurt ihre Fäden nach Ostdeutschland, recherchierten Journalisten für eine ZDF-Dokumentation.

Blaumachen in Erfurt

Erfurt - Krämerbrücke

Krämerbrücke

Um ein Haar wäre zusammen mit dem „Paganini“ eine der am aufwändigsten und farbenprächtigsten restaurierten Fassaden der Stadt zerstört worden. Heute Sitz der Handelskammer Thüringens, sind die fantasievoll geschmückten Renaissance-Residenzen ein Dejàvu-Erlebnis für jeden, der Danzig kennt. Außerdem geben die Prunkvillen Aufschluss darüber, warum in Erfurt frühzeitig so rege gebaut wurde: Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert florierte nämlich der Handel mit Europas ältestem Färbekraut, dem Waid. Die eher unscheinbare, gelb blühende Pflanze bauten Bauern im milden Klima der thüringischen Ebene großflächig an. Nach der Ernte waren mehrere Arbeitsgänge nötig, um aus dem Waid blaues Farbpulver herzustellen. Die Farbe entwickelte sich letztendlich beim Trocknen an der Luft. „Blaumachen“ nannten die Färber diesen Prozess. Sie hatten dann frei, ganz im Gegensatz also zu dem unerlaubten Schwänzen, das „blaumachen“ für uns heute bedeutet.

Der beliebte Färbestoff brachte Kapital und Ansehen – die eleganten Patrizierhäuser legen Zeugnis ab vom damaligen Reichtum der Stadtherren, den diese mit ihrem Beitritt zur mächtigen Handelsorganisation der Hanse dauerhaft absichern wollten.

Erfurt - Krämerbrücke - Wohnen über dem Fluss

Krämerbrücke - Wohnen über dem Fluss

Dem Plan stand zunächst nichts im Wege, war doch Europas größter Waid-Umschlagplatz der Erfurter Anger. Schließlich verdrängte jedoch das farbintensivere und preiswertere Indigo, das aus Übersee importiert wurde, Waid vom Markt. Der Anger allerdings hat seine Rolle als pulsierendes Herz der Stadt durch alle Zeiten hinweg behalten – heute kreuzen sich hier die Straßenbahnlinien, und der trubelige Platz ist als „beste Adresse“ für Geschäfte heiß begehrt.

In der DDR führte die sozialistische Obrigkeit den kommerziellen Konkurrenzkampf um den Anger auf ihre Weise: Private – also nicht parteikonforme – Geschäftsleute sollten auf dem Platz keinen Erfolg haben. Traude Weck, Erbin einer Hohlschleiferei für Messer und chirurgische Instrumente, erinnert sich noch gut an diese rigide Zeit. Dort, wo die Glasfassade Hugendubels über dem Anger glänzt, standen damals die Kunden bei ihr Schlange, um stumpfe Messer und Scheren schärfen zu lassen. Das durfte offiziell nicht sein. Obwohl sich die Firmeninhaberin mit Prozessen, Briefen an Honecker und Debatten mit dem Rat der Stadt zur Wehr setzte, musste sie gehen – bis ganz ans Ende der Geschäftszeile, in die heutige Regierungsstraße.

Immer noch besser, als verstaatlicht zu werden, findet Traude Weck nach wie vor. „Da hätte ich ja mit einem Bein im Zuchthaus gestanden“, erklärt die energische 82-Jährige nachdrücklich ihren Widerstand. -Der Staat, immer auf Erfolgskurs bedacht, verbot nämlich den an ihn gebundenen Geschäften, Waren über längere Zeit zu lagern. Über ihr Gesicht huscht ein spitzbübisches Lächeln. „In einem Sommer gab es Nussknacker im Angebot. Ich lagerte eine Menge davon ein – der Konsum-Handel traute sich nicht, denn die mussten ja alle Viertel Jahre Meldung machen. Aber ich hatte zu Weihnachten Nussknacker.“ Traude Weck ist ihrer Heimatstadt längst nicht mehr gram wegen der alten Geschichte - die gehört jetzt einfach dazu, zu den vielen anderen über Erfurt.

 

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