Puszta, Post und Paprika

Mit dem Fahrrad um den Theiß-See in Ungarn

Text und Fotos: Winfried Dulisch

Jeder Kreuzworträtsel-Freund kennt den größten ungarischen See mit zehn Buchstaben: P, L, A, T, T, E, N, S, E und E. Aber wie heißt eigentlich der zweitgrößte? – Winfried Dulisch radelte rund um den Theiß-See und landete mitten in der berühmtesten Steppe Europas.

Ungarn - Reiter am Theiß-See

Um 1980 herum drohte der Plattensee (ungarisch: Balaton) am Fremdenverkehr zu ersticken. Mehr als eine Million Gäste pro Jahr waren für das – eine Autostunde südwestlich von Budapest liegende – Balaton-Ökosystem nicht zu verkraften. Deshalb suchten ungarische Tourismus-Manager zusammen mit Naturschützern nach Möglichkeiten, einen Teil der Besucher-Ströme in die damals noch wenig erschlossene Theiß-Region umzuleiten.

Die Theiß entspringt in der Ukraine, sie ist der längste Donau-Nebenfluss und durchfließt die östliche Hälfte von Ungarn. Hier herrschen Temperaturen, die im Jahres-Durchschnitt zehn Grad höher liegen als in West-Ungarn. Wegen ihrer Fruchtbarkeit galten die Uferregionen der Theiß einst als die Speisekammer Europas. Gleichzeitig überschwemmte und verwüstete der Fluss Jahrtausende lang aber auch immer wieder die Puszta-Ebene.

Um weitere Hochwasser-Katastrophen zu verhindern, wurde das Flussbett im 19. Jahrhundert reguliert, was allerdings die umliegenden Gebiete austrocknete. 1973 wurde ein Stausee-Becken für den Fluss ausgehoben, 20 Jahre später erreichte der Theiß-See seinen heutigen Wasserstand. Dieser inzwischen zweitgrößte See in Ungarn ist 27 Kilometer lang. Seine Gesamt-Oberfläche misst knapp 130 Quadratkilometer, zwei Drittel davon sind bedeckt mit Wasser, der Rest wird eingenommen von zahlreichen Inseln und Inselchen.

Ungarn - Radeln am Theiß-See

Trotz seines relativ geringen Alters vermittelt der Theiß-See (ungarisch: Tisza-tó) bereits den Eindruck eines seit Generationen unberührten Urwald-Gewässers. Dabei ist der Tisza-tó überhaupt kein See, sondern viel mehr eine renaturierte Fluss-Aue. Und damit eignete er sich hervorragend als Film-Kulisse für den Hollywood-Schinken „Der Adler der Neunten Legion“. Dieses Schwert-und-Sandalen-Epos spielt zwar eigentlich in der römischen Provinz Britannien. Macht nix. Die Sumpf- und Wasser-Szenen wurden am und im Theiß-See gedreht.

Solch eine Invasion à la Hollywood fügte dem Tisza-tó keinen nachhaltigen Schaden zu. Denn ansonsten ist diese Fluss-Landschaft weitestgehend allein der Flora und Fauna Natur zur freien Benutzung überlassen. Und weil der Tourismus-Boom hier mit Verspätung einsetzte, blieb das Gebiet von den sonst üblichen Bausünden verschont. Um das Gewässer herum wurden kleine Campingplätze, Hotels und Ferien-Siedlungen gebaut. Hier und da wurde auch mal eine Anlegestelle für Boote eingerichtet.

Willkommen in der No-go-Area

Für die Fans von Wasserski, Bootsrennen und anderen aggressiven Freizeitbetätigungen ist der See – pardon, die Fluss-Aue – eine No-go-Area. Doch die Angler, Wanderer und andere „sanfte“ Sportler finden hier ideale Bedingungen vor. Die Radwege auf den Deichen rund um den Theiß-See sind asphaltiert oder gut befestigt. Hinter jeder Wegbiegung öffnen sich neue Ausblicke auf eine Auen-Landschaft, die bis zum Horizont reicht.

Ungarn - Haus am Theiß-See

Nicht nur die Natur - auch die dörfliche Architektur erfreut zwischen Theiß und Puszta

Aber da fehlt doch noch was? – Stimmt. Rund um den Tisza-tó vermisst der Besucher jene Windräder, die in anderen Naturschutz-Regionen bereits zur zweiten Natur geworden sind. Die Ökologen mögen dieses Defizit bedauern. Ein Radwanderer – vor allem wenn er mit Kindern unterwegs ist – freut sich darüber, dass hier wegen mangelnder Luftmassen-Bewegung keine Wind-Energie erzeugt werden kann.

Ruhe bitte

Das Fehlen von Seiten- und Gegenwind prägt auch die beschauliche Atmosphäre in den Ortschaften rund um den Theiß-See. Im angrenzenden Umland entwickelte sich ein liebenswert gemütlicher Dorf-Tourismus. Als typisches Beispiel dafür steht die Tisza Lodge (1)– eine ehemalige Getreidescheune, drei Kilometer entfernt vom Südufer des Theiß-See. „Die Seele baumeln lassen“ ist hier noch nicht zur Phrase verkommen. Als Versprechen wie auch als Aufforderung prangt an der Rezeption diese kleinen Hotels in großen Lettern: „Quietness Peace Serenity“.

Statt mit Ruhe, Frieden und Gelassenheit wirbt im benachbarten Kisköre (2) das Hotel Ezüst Horgony mit seiner Radfahrer-Freundlichkeit und Familienanschluss-Atmosphäre. Abends verrät Hotel-Chef Andreas Farkas den Gästen das Rezept seiner Gulaschsuppe, die er am offenen Feuer kocht. „Erst einmal das Gemüse anschmoren. Anschließend den Speck vom Mangalica-Schwein hinzugeben.“ Dieses auch als „Wollschwein“ bekannte Nutztier war einst in Ungarn verbreitet, wurde in den 1950er Jahren aber von seinen weniger fetten Artgenossen aus England verdrängt.

Ungarn - Gulaschsuppe am offenen Feuer

„Danach gebe ich Rindfleisch dazu. Wenn es durchgegart ist, kommt erst die Zwiebel, dann Paprika.“ – Wie scharf? – „Nicht sehr scharf. Die Gäste können später am Tisch je nach Geschmack selbst nachwürzen.“ Wenn auch das Rindfleisch zart geschmort ist, schüttet Andreas Farkas noch gehackte Sellerie und Karotten in den Topf. – Und was befindet sich in der Flasche, deren Inhalt er noch vor dem Servieren in den Topf gießt? – „Sodawasser. Davon wird mein Gulasch so zart.“

Von feucht nach trocken

Wer auch beim Urlaub im Naturschutzgebiet auf internationalem Gourmet-Niveau speisen möchte, geht in das Restaurant des Tisza Balneum (3). Dieses Viersterne-Hotel am Ostufer des Tisza-tó lässt mit seinem Komfort und Service kaum erahnen, dass keine halbe Autostunde entfernt von hier das größte Steppengebiet Mitteleuropas liegt – die Hortobágy-Puszta. Diese auf den ersten Blick völlig unwirtlich erscheinende Ebene ist das totale Gegenteil von jener üppigen Wildnis, die an den Ufern der Theiß gedeiht.

Vom Hotel Tisza Balneum führt eine Asphaltstraße zum Hortobágy-Nationalpark (4). Der Lastwagen-Fernverkehr benutzt eine neue parallel dazu verlaufende Autobahn. Deshalb können auch gemütlich radelnde Familien diese ungefähr 30 Kilometer lange Straße für ihren Puszta-Trip nutzen. Und die noch verbliebenen PKW-Fahrer sind hier ohnehin mehr noch als im übrigen Ungarn an das Tempo und die Fahrgewohnheiten von Radwanderern gewöhnt.

Ungarn - Theiß-See - Ochsengespann

Die Graurind-Ochsen heißen uns willkommen in der Hortobágy-Puszta! – 1967 hatte der Zoologe und Nobelpreisträger Konrad Lorenz die ungarischen Politiker davon überzeugt, dass diese karge Steppe zum Naturschutzgebiet erklärt werden müsse. Die Puszta ist eine Graslandschaft, die sich – ähnlich wie die Lüneburger Heide – entwickelt hat auf dem Boden einer ehemaligen Waldsteppe, die seit dem 16. Jahrhundert abgeholzt worden war.

1973 wurde der 52.000 Hektar großer Hortobágy-Nationalpark gegründet und inzwischen auf 82.000 Hektar erweitert. 1999 nahm die UNESCO die Hortobágy-Puszta in ihre Weltnaturerbe-Liste auf. Die meisten ähnlich bedeutungsvollen Nationalparks in Europa liegen in bergigen Regionen – zum Beispiel die Alm-Landschaften in den Alpen oder einige inzwischen unter UNESCO-Schutz stehenden europäische Weinbaugebiete.

Ungarn - Theiß-See - Blick vom Kutschbock

Die Hortobágy-Puszta ist eine flache Ebene. Einfach nur flach. Deshalb ist sie – wie das gesamte ehemalige Überschwemmungsgebiet der Theiß – ein ideales Radwanderer-Ziel. Und auch hier weht kein störender Wind – aber durchaus ein kühlendes Lüftchen, sogar in den Sommermonaten. Deshalb ermahnt der Kutscher seine Gäste, bevor er mit ihnen die Hortobágy-Puszta durchquert: „Unbedingt eine leichte Jacke oder einen Pulli mitnehmen!“

Die Fahrt geht vorbei an einsamen Gehöften. In den Ställen stehen spanische Merino-Schafe. Der Guide erklärt: „Ihre ungarischen Artgenossen produzieren eine harte Wolle, die heute nicht mehr verkäuflich ist. Deshalb werden hier jetzt Merinos gezüchtet.“ Außerdem muss die Kutsche noch anhalten für einen Foto-Termin bei den Mangaliza-Schweinen.

Ungarn - Theiß-See - Mangaliza-Schweine

Dabei kommt die eigentliche Attraktion erst noch: Die Csikós-Post. Bei dieser Vorführung mit mehreren Pferden steht ein Csikós – übersetzen wir das einfach mal mit „Puszta-Cowboy” – auf dem Rücken der zwei hinteren Pferde und lenkt das Gespann. Lange Zeit glaubten sogar die Ungarn, dieses Bravourstück sei von mutigen Pferdehirten einem 1923 entstandenen Bild des Wiener Malers Ludwig Koch abgeschaut worden. Inzwischen ist aber ein Zirkusplakat aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgetaucht, auf dem dieses Reiterkunststück bereits als „Ungarische Post“ dem Publikum angekündigt wurde.

Die Post geht ab

Doch die eigentliche Post geht zwischen der Hortobágy-Puszta und dem Tisza-tó ganz anders ab: Mehr als zwei Drittel der ungefähr 500 in Europa bekannten Vogelrassen leben oder brüten hier oder nutzen die Region als Zwischenstation bei ihren Wanderungen. Deshalb steht der Osten von Ungarn in der Hitliste der europäischen Birdwatcher-Paradiese ganz oben. Und die Vogelbeobachter-Szene gewinnt ständig neuen Zulauf. Die Naturschützer können also beruhigt sein. Denn ein Birdwatcher wird niemals jenen Ast absägen, auf dem sein Lieblingsvogel sitzt.

Ungarn - Theiß-See - Dorfstraße

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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