Text und Fotos: Rainer Heubeck
Thuy will wissen, ob ich Angst davor habe, auf ihr Motorrad zu steigen. Nein, keineswegs, versichere ich. Schließlich bin ich gerade erst mit dem Motorradtaxi von der Hang Giay zum Hanoier Goetheinstitut gefahren. „Aha, mit dem Xe-ôm sind Sie kommen“, antwortet Thuy. „Xe-ôm“, so lautet das vietnamesische Wort für Motorradtaxis – und die gibt es in Hanoi an jeder Straßenecke. Thuy hat ein Jahr lang in Heidelberg gelebt und studiert, bis sie nach Hanoi zurückkehrte. Nun arbeitet sie gelegentlich als Fremdenführerin. Thuys Nachname lautet Nguyen – doch das ist kaum der Erwähnung wert. Denn nach der Nguyen-Dynastie, die von 1802 bis 1945 in Vietnam herrschte, ist jeder dritte Vietnamese benannt. Dagegen kann hierzulande weder Müller, Meier noch Schulze ankommen.
Freilich: Die Nguyen-Dynastie lebte und residierte nicht in Hanoi, sondern in Zentralvietnam, wo die noch erhaltenen Reste der Zitadelle und der Kaiserstadt Hoang Tanh heute zu besichtigen sind. Inmitten dieser Kaiserstadt, die dem Kaiserplast in Peking nachempfunden war, findet sich die so genannte verbotene purpurne Stadt, die dem Herrscher, seiner Familie und seinen mehr als 200 Konkubinen vorbehalten war. Alte Kaiserstadt wird Hue oft genannt – dabei herrschte die Dynastie der Nguyens dort erst ab dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Wer in Vietnam wirklich den Hauch der Geschichte spüren will, wer eine Stadt erleben will, in der es bereits eine Universität gab, als Bangkok und Kuala Lumpur noch unwegsame Sumpfgebiete waren, der muss die Stadt des aufsteigenden Drachens der besuchen: Hanoi.
Nur einen Block vom Goetheinstitut entfernt befindet sich der Eingang zum Literaturtempel, der wohl wichtigsten Sehenswürdigkeit Hanois. Auf dem Weg dorthin kommen wir an kleinen Restaurants vorbei, die blaue Plastikstühle auf die Straße gestellt haben. „Hier gibt es gebratenes Schweinefleisch mit Reisnudeln, das ist sehr, sehr lecker“, versichert Thuy. „Das schmeckt auch den Ausländern.“
Thuy mit Statue im Literaturtempel
Doch das Profane lassen wir nun schnell hinter uns. „Der Literaturtempel“, erläutert Thuy, „ist 1010 gegründet worden. Er war die erste Universität in Vietnam und ein heiliger Ort, an dem Konfuzius verehrt wurde. Früher haben hier nur Söhne von Kaisern, Königen und Mandarinen studiert.“ Um die Klassenunterschiede zu wahren, wurde jeder Durchgang dreifach gebaut – ein Tor in der Mitte, das Kaiser und Könige nutzten, und zwei Tore seitwärts – für das einfache Volk.
Die Weisheit der Schildkröten
Die Zeiten, als hier Beamtenanwärter ihre Gelehrsamkeit nachwiesen und dafür prämiert wurden, möglichst viele konfuzianischen Texte auswendig vorzutragen, sind mittlerweile Geschichte – doch noch immer glauben die Vietnamesen, hier den Zugang zur Weisheit finden zu können. „Für viele Vietnamesen“, erläutet Thuy, „ist der Literaturtempel auch heute noch heiliger Ort. Viele Schüler kommen hierher, bevor sie ihr Abitur machen oder die Aufnahmeprüfung für die Hochschule ablegen, und beten für Glück und Erfolg bei der Prüfung.“ Ein Stück weiter, im letzten der fünf Innenhöfe, sehen wir ein frisch vermähltes Paar, das für einen Fotografen posiert. „Viele Menschen kommen am Tag der Hochzeit hierher in den Literaturtempel, weil sie glauben, dass sie dann besonders intelligente Kinder bekommen“, erläutert Thuy.
Im dritten Vorhof des Literaturtempels sind 82 Stelen aufgestellt, auf denen die Namen der Preisträger der Literaturprüfungen eingemeißelt sind. Jede Stele ist auf dem Rücken einer steinernen Schildkröte aufgestellt, dieses Tier gilt als Symbol für Glück und Weisheit. „Die älteste Schildkröten-Stelen-Kombination stammt aus dem Jahr 1442, wenn man den Kopf dieser Schildkröte streichelt, bringt einem das Glück“, versichert Thuy und macht die Probe aufs Exempel. Ein Stück weiter, am Konfuzius-Altar in der „Ehrenhalle des Großen Erfolgs“, zünden Besucher Räucherstäbchen an und legen Blumen nieder. Im Vorhof treffen wir drei Architekturstudenten. Ruhig und konzentriert sind sie über ihre Blätter gebeugt und zeichnen die Tempeltore ab. Ein ruhige, eine friedliche, eine idyllische Szene – und das mitten im quirligen Hanoi.
Ab ins Verkehrsgewühl!
Nach dem Besuch im Literaturtempel wird es ernst. Thuy holt ihren Motorroller. Keine Honda, keine Yamaha, sondern eine in Taiwan konstruierte, aber in Vietnam gebaute SYM. Leider ist die Maschine eingeparkt und nur mühsam aus den Gewimmel der Motorroller herauszubugsieren. Als Thuy es geschafft hat, nehme ich auf dem Rücksitz Platz. Prompt zeigt der Parkplatzwächter besorgt auf das durchgedrückte Hinterrad. Zwei Zentner schwere Passagiere auf dem Soziusplatz sind in Vietnam nicht vorgesehen.
Ein Motorrad in jeder Familie
Auch Thuy wirkt nun einen Moment lang unsicher, überlegt sogar, ob ein Taxi nicht besser wäre. Doch bald darauf hat sie ihre Maschine unter Kontrolle und fährt los. Nach etwa einem Kilometer will sie nach links abbiegen. Kein einfaches Unterfangen, denn wir sind links und rechts von motorisierten Zweirädern umgeben – und mindestens dreißig Motorroller und Motorräder kommen geradewegs auf uns zu. Thuy fährt trotzdem unbeirrt nach links. Mir stockt der Atem – doch sämtliche entgegenkommende Fahrzeuge kalkulieren die Fahrtroute richtig und umfahren uns geschickt. Bis zur nächsten Kreuzung bleibt weitere Aufregung erspart, abgesehen von einem Linienbus, der bedenklich nah auffährt. An der Kreuzung schaltet die Ampel gerade auf Gelb. Thuy Nguyen gibt Gas. Der Verkehr in Hanoi entzieht sich sämtlichen Regeln, funktioniert aber erstaunlich gut. Vor Jahren dominierten hier Fahrräder, doch das ist lange vorbei. „Jede Familie hat mindestens ein Motorrad, die meisten zwei, manche sogar fünf“, beteuert Thuy Nguyen.
Der erste Stopp: Das Ho-Chi-Minh Mausoleum. „Es lebe die sozialistische Republik Vietnam“ prangt auf einem großen Spruchband am Rande des Ba-Dinh-Platzes. Das Bekenntnis zum Sozialismus und eine sich im Turbo-Tempo entwickelnde Privatwirtschaft mit acht Prozent Wachstumsraten, in Hanoi scheint das kein Widerspruch zu sein. Was Ho-Chi-Minh wohl dazu sagen würde? Doch der ist gerade nicht da, sein Leichnam ist nach Moskau gebracht worden, um die Konservierung zu erneuern.
Das Mausoleum für den alten Haudegen
Nicht weit vom Mausoleum entfernt findet sich eine Mini-Pagode, deren Form einer Lotusblüte nachempfunden ist – und die mit einer besonderen Geschichte verbunden ist. „Kaiser Ly Thai To, der sehr traurig war, weil er keinen Sohn hatte, sah eines Nachts im Traum die Göttin der Barmherzigkeit. Sie hielt ein Kind im Arm und überreichte es ihm. Und siehe da, ein paar Monate später ist die Königin schwanger geworden“, berichtet Thuy. „Um der Göttin der Barmherzigkeit zu danken, lies der König die Ein-Säulen-Pagode bauen, in der diese Göttin verehrt wird. Ihre Figur hat viele Hände – damit sie möglichst vielen Menschen etwas geben kann.“
In der Pagode
Vietnam – ein Land zwischen Einflüssen aus Indien und aus China, ein Land zwischen Buddha und Konfuzius, ein Land der Tempel und der Pagoden. In der französischen Kolonialzeit hinterließ natürlich auch das Christentum seine Spuren. Ein beeindruckendes Zeugnis dafür ist die Sankt-Josefs-Kathedrale am Rande der Hanoier Altstadt, die 1886 eingeweiht wurde.
Motorroller fürs Jenseits
Doch Thuy Nguyen hat ein anderes Ziel. Sie will mir noch den Westsee zeigen, den größten See in der Hanoier Innenstadt. Auf der kleinen, über einen Steg erreichbaren Goldfischinsel steigt auf dem Vorplatz der Tran Quoc-Pagode dunkler Rauch gen Himmel, hier verbrennt gerade eine Opfergabe für die Ahnen. „Die Vietnamesen glauben, dass die Verstorbenen in einer anderen Welt weiter leben. Dort benutzen sie die gleichen Dinge wie die Lebenden, zum Beispiels Handys, Computer oder Motorräder“, erläutert Thuy. Wenn eine aus Papier geformte Honda verbrannt wird, kann der verstorbene Großvater im Himmel also gleich damit losfahren. Ein Vietnamese ohne Motorroller - das gibt es also nicht einmal mehr im Jenseits.
Impression vom Westsee
Die Führung ist vorbei, Thuy Nguyen bringt mich in die Altstadt. Entlässt mich in einem Gewirr aus Gassen und Gässchen. Jede Straße hier war hier früher einem Produkt zugeordnet, in der Hang Dao gab es Seide, in der Hang Ga wurden Hühner verkauft, die Hang Muoi war die Salzstraße und in der Hang Bac arbeiteten die Silberschmiede. Der Altstadtkern unweit des Hoan-Kiem-Sees stammt aus dem 15. Jahrhundert – und war früher streng unter den insgesamt 36 Handwerkszünften aufgeteilt. Noch heute prägen verschiedene Gewerbe bzw. Zünfte die einzelnen Gassen, die Schmiede oder Steinmetze, die hier ihr Handwerk verrichten, arbeiten dabei meist auf der Straße.
Zu Fuß durch die Altstadt – das ist gar nicht so einfach, denn der Gehsteig ist hier längst zu einem Stehsteig mutiert. Zu einem gigantischen Parkplatz für Hondas und Yamahas. Notgedrungen weiche ich immer wieder auf die Straße aus – vorsichtig um mich blickend, damit ich nicht von einem Motorroller gerammt werde. Weniger gefährlich – aber nicht minder interessant - ist es da auf dem Markt in der der Gia Nou, der einer Open Air-Küche gleicht. Da werden Ananas geschnitten und Sonnenblumenkerne geröstet, da wird Tofu gewaschen und Schweinefleisch zu kleinen Würfeln verarbeitet. Eine Frau mit Kegelhut zerstampft Papayas, nebenan röstet eine Kollegin Maiskolben. Ein Stück weiter werden Reisfladen gefüllt und Fische in siedendes Fett geworfen.
Verkehrsgetümmel vor der Altstadt
Die vietnamesische Hauptstadt Hanoi, sie ist eine bunte, eine lebendige Stadt. Sicher, die Orientierung in der Altstadt fällt anfangs schwer. Doch wer nicht weiter weiß, dem bleibt immer noch das Xe-ôm. Angst ist auf dem Rücksitz allerdings fehl am Platze. Fürchten müssen sich in Hanoi nur die Fußgänger – wenn sie zwischen fünfzig Motorrollern, die allesamt in unterschiedlicher Geschwindigkeit auf sie zu rauschen, eine Hauptstraße überqueren wollen.
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